Der Schlangenbanner

Als ich auf der Alpe Schiedlen einen Sommer über Pfister [Unterknecht] war, mußte ich fast täglich abends zweiundsechzig Ziegen auf der etwa eine Stunde entfernten hochgelegenen Alpe Schadauna, ihrem besonderen Lieblingsorte, aufsuchen und heimtreiben. Da traf es sich einmal, daß ich früher als gewöhnlich von unserer Sennhütte aufbrach. Und weil ich Zeit hatte, so ging ich bis zu jenem Punkte, von welchem man in das Bad Rotenbrunnen hinabsehen kann. Auf dieser mit üppigem Grase bewachsenen Höhe bemerkte ich aber zu meinem größten Erstaunen einen runden Platz von etwa fünfzehn Fuß Durchmesser von gelber Farbe, wo keine grünende oder blühende Pflanze zu sehen war. Ich fragte deshalb einen Knecht von der Alpe Schadauna, mit welchem ich zufällig zusammentraf, warum denn hier kein Gras wachse? Er erzählte mir nun folgende Geschichte:

„Vor nicht gar langer Zeit waren auf dieser Alpe sehr viele Nattern, vor welchen die Alpenknechte, obwohl ihnen kein Leid geschah, dennoch große Furcht hatten und daher nichts sehnlicher wünschten, als endlich einmal dieser Tiere loszuwerden. Da kam einmal ein unbekanntes Männchen in die Hütte, um zu übernachten. Während des Abendessens war wieder die Rede von den Nattern. Als das Männchen die Knechte so jammern und klagen hörte, fragte er sie, ob sie auch eine weiße Natter in der Alpe gesehen hätten. Da sie dieses verneinten, so sagte es: „Nun, dann kann ich helfen. Traget einen großen Haufen Tannenreiser zusammen, und das andere überlasset mir.“ Gesagt, getan. Als der Haufen groß genug war, zündete das Männlein die Tannreiser an, nahm ein Buch aus der Tasche hervor und murmelte Gebete aus demselben. Und siehe! Von allen Ecken und Enden der Alpe schössen Nattern herbei und mitten ins Feuer hinein. Aber plötzlich vernahm man einen Pfiff, und schon im nächsten Augenblicke schoß ihm eine weiße Natter durch die Brust und von da ins Feuer. Von jener Zeit gibt es auf der Alpe keine Nattern mehr, aber auf diesem Platze, wo diese verbrannten, wächst auch kein Gras mehr.“

Quelle: Josef Elsensohn, Feierabend, 3. Jg. (1921), 16. Folge, S. 70, zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 235f