DAS BRUEDERHÜSLE

Vom Kristberg über der kleinen Kirche zu St. Agatha führt ein steiler Zickzackweg, holprig und schmal den waldigen Berghang hinab nach Dalaas. Ungefähr Mitte Weges steht in stiller Waldeinsamkeit eine kleine Kapelle, geschmückt mit einem lieblichen Muttergottesbild. Dieses Käppele heißt im Volksmund das Bruderhüsle. Jeder, der den mühevollen Weg vorbeikommt, setzt sich gerne zur Rast bei der Kapelle hin. Als seinen Gründer und Stifter nennt die Sage einen längst dahingeschiedenen Tannberger. Dem wurde ein Knäblein geboren, das Kind aber war tot zur Welt gekommen und konnte nicht mehr getauft werden, was den frommen Vater sehr betrübte. Solche totgeborenen, ungetauften Kinder pflegte man damals in Schruns im Montavon in die Kirche zu tragen und sie da auf den Josefi-Altar zu legen. Dann zog man glaubwürdige Zeugen bei und betete, und siehe! oft geschah es, daß in die toten Hüllen das Leben auf eine kurze Zeit wiederkehrte und der eilends herbeigerufene Priester die heilige Taufe erteilen konnte. Der Tannberger, voll gläubigen Sinnes, befahl seinem Knechte, die Leiche des Kindes auch nach Schruns zu tragen. Der Knecht mochte die Sache als Aberglauben ansehen, er trug die Kindesleiche nur bis in den Dalaaser Wald, grub sie dort ein und kehrte wieder um. Daheim meldete er, er habe das tote Knäblein auf dem Josefi-Altar in Schruns niedergelegt, es habe durch ein plötzliches Rotwerden der Wangen und Lippen unzweifelhafte Zeichen des Lebens gegeben und sei ordentlich getauft und zur geweihten Erde bestattet worden. Der Vater gab sich zufrieden.

Nach einem Jahr ward der Tannberger von seiner Ehefrau wieder mit einem Knäblein beschenkt, aber auch dieses kam tot zur Welt. Diesmal war es der Vater selbst, der die Leiche nahm und sich damit auf den Weg nach Schruns machte, um seinem Kinde die heilige Taufe zuzuwenden. Er hatte etwa die Hälfte des Weges von Dalaas auf die Höhe des Kristberges zurückgelegt, als er sich ermüdet niedersetzte, um eine Weile auszuruhen. Wie er so dasaß und sich den Schweiß von der Stirne wischte, rief es neben ihm, wie er glaubte, unter einer Erdscholle: "Ätti, nimm mi o met!" Die Stimme rief bald nocheinmal recht wimmernd und kläglich. Der Tannberger grub nach und siehe! da kam die unversehrte Leiche seines letztjährigen Kindes zum Vorschein, das er an einem Muttermal deutlich erkannte. Er erriet den Betrug des Knechtes, machte sich mit beiden Leichen auf den Weg und trug sie gen Schruns. Dort ging sein heißer Wunsch in Erfüllung. Die Kindesleichen gaben während der Gebete der andächtigen Zeugen auf einige Augenblicke deutliche Lebenszeichen, konnten gültig vom Priester getauft und auf dem Friedhof beerdigt werden. Zur ewigen dankbaren Erinnerung an diese Begebenheit ließ der Tannberger an der Stelle, wo er die Kindesleiche ausgegraben, das Bruederhüsle bauen und begabte es mit einer Stiftung, um es fortan in baulichen Ehren erhalten zu können.


Quelle: Die Sagen Vorarlbergs. Mit Beiträgen aus Liechtenstein, Franz Josef Vonbun, Nr. 152, Seite 127