HEINRICH FINDELKIND

Die schöne Kunststraße über den Arlberg ist ein Werk der neuesten Zeit. Die erste breite Straße für schweres Fuhrwerk über dieses hohe Gebirge, den Grenzwall zwischen Tirol und Vorarlberg, wurde erst nach der Mitte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Absprengung bedeutender Felsmassen angelegt und am St.-JakobsTage des Jahres 1787 eröffnet. Früher führte nur ein schmaler Weg für Saumrosse über diese Felsen hin. Gewiß hatte der Grimm strenger und lang andauernder Winter oder das Ungemach von Wind und Wetter und der langgestreckte Weg über eine Höhe von 1802 m manchen mit dem Tode bedroht, als ein armer Jüngling, Heinrich das Findelkind, der als Hirt in dieser Gegend solche Unglückliche gesehen hatte, im Drange christlicher Nächstenliebe auf Abhilfe sann und sie auch fand. Heinrich selbst erzählt seine schöne Tat:

"Ich Heinrich, Findelkind. Mein Vater, der mich fand, hieß der Maier von Kempten, der verdarb wegen Bürgschaft. Der hatte neun Kinder, und ich Heinrich, Findelkind, war das zehnte. Da tat er uns halb aus dem Hause, daß wir gingen und dienen sollten. Da kam ich Heinrich, Findelkind, zu zweien Priestern, die wollten nach Rom; mit denen ging ich über den Arlberg, und wir kamen zu Jacklein über Rhein. Da sprach Jacklein: ,Wo wollt ihr mit dem Knaben hin?' Da sprachen die Herren: ,Er ist zu uns kommen auf dem Felde.' Da sprach Jacklein: ,Wollt ihr ihn hier lassen, daß er uns die Schweine hüte?' Da sprachen sie: ,Was er tut, ist uns lieb.' Und er dingte mich und gab mir das erste Jahr zwei Gulden. Da war ich bei dem genannten Jacklein zehn Jahre und ging mit ihm zur Kirche in dem Winter und trug ihm das Schwert nach. Da brachte man viel Leute, die waren auf dem Arlberg in dem Schnee verdorben; denen hatten die Vögel die Augen ausgefressen und die Kehlen ab. Das erbarmte mich Heinrich, Findelkind, so sehr, und ich hatte fünfzehn Gulden verdient mit dem Hirtenstab. Da rufte ich und sprach, ob jemand nehmen wollte die fünfzehn Gulden und einen Anfang anheben auf dem Arlberg zu bauen, daß die Leute nicht so verdürben. Das wollte niemand tun; da nahm ich den allmächtigen Gott zu Hilfe und den lieben hl. Christophel, der ein großer Nothelfer ist, und fing an mit den fünfzehn Gulden, die ich mit dem Hirtenstab verdient hatte, und den ersten Winter half ich sieben Menschen mit dem heiligen Almosen. Seitdem haben mir Gott und ehrbare Leute geholfen, daß ich und meine Helfer des Lebens gerettet haben fünfzig Menschen, und den Anfang hub ich an im Anfang des Jahres 1386 am Tage Johannis des Täufers."

Der Segen des Herrn folgte einer so frommen Johannisfeier und erweckte christliche Gemüter zur Nachahmung. Heinrich durchzog bittend Deutschland, Böhmen, Polen und Kroatien; Herzog Leopold IV. trug der arme Knecht seine Bitte vor, ein Haus auf dem Arlberg zu bauen, damit die armen Leute Herberge hätten, wenn sie vor Unwetter oder Krankheit nicht weiterkommen könnten. Der Landesfürst gab Beihilfe und Erlaubnis, weil viel guter Dinge von einfältigen Leuten angefangen worden, und ermahnte in einem offenen Brief, Graz, den 27. Dezember 1386, alle Nahegesessenen und Reisenden, sich dem Werke mitzuunterziehen. Er selbst und noch drei fürstliche Paare habsburgischen Stammes verbrüderten sich mit der Versicherung eines jährlichen Beitrages und ließen ihre Wappen prächtig in das pergamentene Brüderbuch hineinmalen, welches bis zum Jahre 1414 viele der edelsten Geschlechter Deutschlands aufführt. Siebzehn Bischöfe gaben reichliche Steuer oder geistliche Vorteile der St.-Christophs-Kapelle, welche in der elenden Herberge entstand. Wenn Heinrich um Beisteuer bat, redete er also: "Liebe Kinder, ihr sollt mir Almosen geben auf den Arlberg zu Weg und Steg und zu einer Herberge, darin man beherbergt arm und reich und aus dem ich mit meinen Knechten, jeglicher mit vier Schneereifen, alle Abende ausziehe und rufe, und wen wir im Schnee finden, den tragen wir in die Herberge und geben ihm Almosen."

Das Brüderbuch vom Arlberg - "1386 Sanct Christophori am Arlperg Bruederschaft Buech" - ist seinerzeit von J. Bergmann beschrieben worden. Das Bude ist ein Quartband mit 306 Pergamentblättern. Die hölzernen Einbanddeckel sind mit rotem Samt überzogen und mit silbernen Spangen, Ecken und einem Mittelstück verziert, mit farbigen Abbildungen der Wappen aller Mitglieder der Bruderschaft mit der Angabe ihrer jährlichen Leistungen, zu denen sie sich verpflichteten. Auf der Rückseite des Titelblattes ist ein kleiner Kupferstich aufgeklebt, der mit Farben den hl. Christoph darstellt, wie er das Jesuskind durch den Strom trägt. Hierauf folgt ein im 17. Jahrhundert gedrucktes "Leben des hl. Märtyrers Christophori" auf drei Quartseiten. Darauf ein auf Pergament gut gemalter St. Christoph, den Heiland tragend, den des Erzherzogs Leopold von Tirol Hofsekretär, der edle Herr Johann Christoph von Plaben, im Jahre 1630 hat malen lassen. Darauf folgen die Wappen: 1. der Erzherzogin Claudia mit ihrer eigenhändigen Unterschrift vom Jahre 1647; 2. ihres ältern Sohnes, des Erzherzogs Karl Ferdinand; 3. das österreichisch-toscanische Wappenschild seiner Gemahlin J. Anna; 4. der beiden Töchter der Erzherzogin Claudia (von Medicis) Isabella Clara Eugenia und Maria Leopoldina, sämtlich von demselben Jahre 1647. Es hatte nämlich Papst Innocenz X. zu Rom am 12. Juli 1647 die Indulgenzen zum besten dieser Bruderschaft erneuert. Diesen Blättern reihen sich S. 6 in alter Schrift an: Herzog Albrecht zu Osterreich hat sich gebrüdert zu sand christofen auf dem Edelsperg etc. und alle andern Blätter mit ihren Wohltätern, woraus sich ergibt, daß im Jahre 1647 diese Bruderschaft eine Renovation erlebt hat.


Quelle: Die Sagen Vorarlbergs. Mit Beiträgen aus Liechtenstein, Franz Josef Vonbun, Nr. 230, Seite 182