Der Geist am Stüber-Fall im Gamperdonatal
Am Stüberfall, dessen Tosen das Gamperdona erfüllt, steht ein altes Bildstöcklein zum Gedenken des Säumers von Nenzing.
Dieser hatte sich eines Abends wieder mit seinen Rossen nach der Alpe Güfel auf den weg gemacht, wohin er Salz, Mehl und Brot zu säumen hatte. Er wollte dort übernachten und dann am Morgen wieder heimzu. Beim Schellengeklingel der Rosse schritt er munter fürbaß.
Als er über die weite Trift des Nenzinger Himmels kam, war es schon spät und es dunkelte. Doch vom Stüberfall her hallte ein Jauchzer. Wer es wohl sein mochte am einsamen Bach? Bald war der Säumer auf der Höhe über dem Falle. Da nahte etwas durch die Erlenstauden, das dunkler war als die Nacht. Ein Mann war es, der dort heraufkeuchte, und er trug eine Kuh! Voll Schreck erkannte er ihn: Es war der verstorbene Hirt von Güfel! Und schon tönte es ihm wie aus einem Grabe entgegen: „Weißt du, daß ich Galles Kuh vor Zorn über die Schrofen gesöcht hab? Jetzt muß ich sie allnächtens daherauf tragen, sovielmal als sie Haare an der Haut hat. Bloß wenn der Wittib und ihren zwölf Kindern die Kuh bezahlt wird, finde ich vorher Ruhe. Wenn meine Schwester es doch für mich täte! Aber noch vor dem Bet-Läuten müßte es sein!" Den Säumer schauerte. Gottes Gericht stand da wahrhaftig vor ihm, und das Mitleid faßte ihn. So schnell er konnte, trieb er die Rosse auf Güfel, lud dort die Bürde ab und das Molken auf; an ein Nächtigen dachte er nimmer. Verwundert redeten die Sennen gegen die Umkehr inmitten der Nacht. Er eilte zurück. Als er wieder zum Stüberfalle kam, erwartete ihn der verstorbene Hirt mit einem Lichte und, mächtig vorausschreitend, gab er ihm das Geleite. Bei der Kapelle Stellfeder schied er, indem er sprach: „Wisse, heut' übers Jahr mußt du sterben! Vergütet doch für mich, ich will's euch im Himmel vergüten!" Mit seiner Hand faßte er den Stock des Säumers, es blieben Brandmale der Finger daran. Der Säumer hastete heimzu. Doch vergeblich klopfte er ans Fenster von des Hirten Schwester; sie lachte höhnisch und schlug den Laden zu. Da ging der Säumer in sein armseliges Häuschen und kramte jeden Groschen bis auf den letzten zusammen und brachte es der Wittib. Viel zu wenig war es; doch als er erzählt hatte, wollte sie es gerne für ihre Kuh gelten lassen. Von draußen erklang das Ave, der Hirte war erlöst. - Still zog der Säumer von da ab, und nach einem Jahre starb er.
Quelle: H. Hensler-Watzenegge, in: Rund um Vorarlberger Gotteshäuser, Heimatbilder aus Geschichte, Legende, Kunst und Brauchtum, Bregenz 1936, S. 50f