DES TISCHLERS ERSTE FRAU
(Aus Dr. F. J. Vonbuns Sagen, nach Dr. Spiegels Aufzeichnung)

Es war einmal in Dornbirn ein Tischler, der hatte eine junge, rothaarige Frau. Die Frau erkrankte und der Mann versprach, an ihrem Bette sitzend, eine Wallfahrt nach Einsiedeln, damit sie bald genese; allein sie starb nach einigen Wochen. Der Tischler gedachte nicht mehr des Gelübdes, sondern freite um eine Freundin der Verstorbenen und führte sie bald zum Altare. Etwa vierzehn Tage nach der Hochzeit ging die neue Frau in ein Zimmer des Erdgeschosses, um dort Hobelscheiten für die Küche zu holen. Wie sie eintritt, sitzt ihre Vorgängerin auf den Hobelscheiten und redet die in sprachlosem Entsetzen erstarrte Freundin mit lauter Stimme an,- ihr Mann, sagte sie, habe eine Wallfahrt nach Einsiedeln gelobt, und bis er dieselbe nicht ausgeführt, könne sie im Grabe nicht Ruhe finden. Am nächsten Tage, morgens um drei Uhr war der Tischler mit seiner zweiten Gattin schon auf dem Wege nach der Schweiz, verrichtete sodann am erwähnten Gnadenorte seine Andacht und ließ ein paar Messen lesen. Und siehe da! Seit der Rückkehr darf die Tischlerin getrost Hobelscheiten holen, die rote, selige Frau läßt sich nicht mehr sehen.


Quelle: Walter Weinzierl, Sagen aus Dornbirn, Dornbirn 1968, S. 30