DER ADLER ÜBER DER HOFBURG

Josef I. stand eines Tages in einer ungewöhnlichen Morgenstunde an einem Burgfenster in Nachdenken versunken, wozu ihm der blutige Krieg mit Frankreich wegen der spanischen Nachfolge Veranlassung gab. Das Waffenglück schien die kaiserlichen Heere in den Niederlanden verlassen zu wollen, und mit banger Erwartung sah Josef einem Kurier entgegen, der ihm Nachricht von dem Stand der Dinge bringen sollte.

In diesem Augenblick flog ein gewaltiger Adler über das Uhr- und Wettertürmchen des Amalienhofes herüber. Der Adler umkreiste den großen Burgplatz in einem langsam schwebenden Flug einige Male und setzte sich dann gerade vor dem Fenster, an dem der Kaiser stand, zu Boden. Das seltsame Tier warf von hier aus sein blitzendes Auge nach dem Fürsten, betrachtete ihn fest und starr, erhob sich dann, bewegte sich hüpfend auf der Erde fort und verschwand endlich, wie es gekommen.

Der Kaiser betrachtete den König der Lüfte anfangs mit Erstaunen und dann mit Wohlgefallen. Ein unerklärbares Gefühl ließ ihn in dem Vogel, dem Urbilde seines Reichswappens, einen ihm vom Himmel gesandten Siegesboten erkennen. Er täuschte sich auch nicht. Kurze Zeit darauf traf die Nachricht von dem Siege bei Ramillies ein (23. Mai 1706). Weil der Adler seinen Flug über den Leopoldinischen Burgtrakt genommen hatte, so soll die dort sich erhebende Stiege mit dem Bilde eines Adlers geschmückt worden sein und den noch geltenden Namen der Adlerstiege erhalten haben.


Quelle: Gustav Gugitz, Die Sagen und Legenden der Stadt Wien. — Wien 1952