DAS ARMENSÜNDERGÄSSCHEN IN ERDBERG

Vor langer Zeit gab es im heutigen dritten Bezirk eine kleine Gasse, die Armensündergäßchen genannt wurde. Sie führte zur Gänseweide hinaus, auf der sich im Mittelalter eine Richtstätte befand. Dort waren viele Menschen, die geraubt oder gemordet hatten, hingerichtet worden und sie alle hatten ihren letzten Weg durch diese kleine Gasse genommen. So war es nicht verwunderlich, daß viele unheimliche Geschichten erzählt wurden und kein Mensch ging, wenn es sich vermeiden ließ, durch das Armensündergäßchen.

Eines Tages wollte die Witwe eines Gärtners aus Erdberg eine Verwandte besuchen und der einzige Weg führte durch das verrufene Armensündergäßchen. Sie blickte in die Gasse hinunter und es schien, als ob sie die Leute zähle, die sich dort aufhielten. Es waren zwei Männer, die gerade ein Faß zu einem der Häuser rollten. Dann rief sie ein gerade vorbeikommendes Mädchen zu sich und sagte: "Liebes Kind, kannst du mich durch die Gasse führen, denn ich brauche jemand auf den ich mich stützen kann." "Ich helfe Euch gerne, liebes Mütterchen", antwortete das Mädchen, "gebt mir Eure Hand und ich leite Euch sicher auf dem Weg."

Die Kleine plauderte lustig vor sich hin, doch die alte Frau hörte ihr gar nicht zu, sondern wendete den Blick nicht von den beiden Männern ab. Als nun einer von ihnen in den Hausflur trat, zog die Witwe das Mädchen schnell zum Eingang der Gasse zurück. Doch als gleich darauf ein Handwerksgeselle das Gäßchen betrat, nahm die Frau das Mädchen rasch an der Hand und sie setzen ihren Weg fort. Als sie am anderen Ende angekommen waren, atmete die Witwe erleichtert auf.

"Mein gutes Kind, ich danke dir für deine Hilfe! Du bist sicher neugierig, warum ich vorher umgekehrt bin. Ich werde es dir erzählen. Wenn man durch diese Gasse geht, muß man sehr genau darauf achten, wieviele Leute sich darin aufhalten. Ist es eine gerade Zahl, kann man durchgehen; ist es aber eine ungerade, dann stößt einem noch im selben Jahr ein fürchterliches Unglück zu!" Das Mädchen lachte und sagte: "Aber ich bin schon so oft hier durchgegangen und mir ist nichts passiert!"

"Da hast du großes Glück gehabt", erwiderte die alte Witwe, "und es war immer eine gerade Anzahl von Menschen in dem Armensündergäßchen. Aber ich weiß genau, wie gefährlich es ist, sich nicht an diese Regel zu halten. Ein Mann, der nicht darauf achtete, starb bereits zwei Tage später und einem anderen wurde sein Geldbeutel gestohlen. Und einer Frau starb sogar ihr einziges Kind!"
Dem Mädchen wurde es nun doch unheimlich zumute und es verabschiedete sich von der alten Frau. Bevor es seinen Weg zurück durch das Armensündergäßchen nahm, schaute es genau und zählte die Menschen, die sich gerade darin aufhielten. Als die Zahl mit ihm zusammen eine gerade ausmachte, lief es schnell hindurch.

Sein ganzes Leben lang hielt sich das Mädchen an die Warnung der Alten, auch wenn die anderen Kinder über diesen Aberglauben lachten.

Quelle: Wien in seinen Sagen, Eva Bauer, Weitra 2002, S. 149