DIE BÄRENMÜHLE AN DER WIEN

Vor alter Zeit waren die Dörfer Nikolsdorf, Matzleinsdorf, Reinprechtsdorf selbstständige Gemeinden *); sie hatten einen eigenen Bürgermeister und ein eigenes Amtssiegel. Wer von Matzleinsdorf nach Nikolsdorf kommen wollte, der mußte über Wiesen und durch einen Weingarten gehen. Wer aber sein Korn in der Mühle mahlen lassen wollte, der mußte bis an den Mühlbach hinuntergehen und da kam er durch einen Wald **).

Im Sommer war es gar nicht gefährlich, in den Wäldern bei Wien zu wandern; im Winter kam es aber öfter vor, daß Wölfe und Bären von der weiteren Umgebung in diese Wälder eindrangen und von da Ausflüge in die Stadt unternahmen.

Einmal im Winter kam der Müller Johann Wachtel, Besitzer der Heiliggeistmühle, spät abends nach Hause. Er wollte eben in die Mühle hineingehen, da hörte er plötzlich hinter sich ein fürchterliches Gebrüll; im selben Augenblick wurde er von zwei kräftigen Armen gepackt und niedergeworfen. Der Müller war ein starker Mann und wehrte sich mit seiner ganzen Kraft. Aber der Bär war stärker und drückte den Müller so fest zu Boden, daß ihm die Rippen krachten.

Bär - Design Heidi Abfalterer

junger, harmloserer Bär, Wohnzimmerhaltung
© Photo, Design und Ausführung Heidi Abfalterer, Oberperfuß, Tirol


Da schrie der Müller, so laut er konnte: "Hilfe! Hilfe!" Das hörte sein Knecht Andreas, der im ersten Stock der Mühle seine Schlafkammer hatte. Er war der stärkste Bursche auf dem Grund und niemand getraute sich, mit ihm zu raufen. Schnell lief er ans Fenster und sah seinen Herrn im Kampfe mit einem zottigen Tier. Ohne viel zu überlegen, sprang er aus dem Fenster und fiel so glücklich, daß er auf den Rücken des Bären zu sitzen kam wie ein Reiter auf seinem Pferd. Da rief er:

"So ist's recht! Wart, du Bestie, wenn du raufen willst, da kommst du mir gerade recht!" Und der Knecht schlang seine beiden Arme mit Riesenkraft um den Hals des Untiers und schnürte ihm die Kehle zusammen. Der Bär ließ sogleich den Müller los und wollte sich aus den Armen des Knechts befreien. Aber Andreas saß wie festgewachsen auf dem Rücken des Tieres und ließ sich nicht abschütteln; seine Arme preßten wie eiserne Klammern den Hals des Bären. Inzwischen war der Müller aufgesprungen, weckte die Nachbarsleute aus dem Schlafe und nun gingen sie alle mit Prügeln, Dreschflegeln und Mistgabeln auf den Bären los. Andreas sprang mit einem Satze von dem Tiere herunter, packte einen Dreschflegel und betäubte mit einem furchtbaren Schlage das wütende Tier. Jetzt war es leicht, den Bären vollends zu töten.

Nach wenigen Minuten lag das Tier tot auf dem Boden. Der Müller war gerettet. Er ging auf Andreas zu, reichte ihm die Hand und sagte: "Du bist ein wackerer Mann! Begehre, was du willst, ich will es dir geben!"

Andreas aber sagte: "Es ist ja nicht der Rede wert, das hätte jeder andere auch getan. Wenn Ihr mir aber was geben wollt, so schenkt mir die Haut von dem Bären. Ich will mir daraus einen Pelz machen lassen für den Winter."

Der Müller wollte ihm noch eine Summe Geldes draufgeben, aber Andreas nahm nichts. Aus der Bärenhaut ließ er sich einen Pelz machen, den er im Sommer und Winter trug; im Winter am Leib, im Sommer über der Schulter. Von da an nannten ihn die Leute nur noch den "Bärenhäuter". Später kaufte er sich in der Nähe ein Wirtshaus und schrieb auf das Schild: "Gasthaus zum Bärenhäuter" ***).

Der Müller ließ den Bären abmalen und hängte das Bild als Schild über die Tür seines Hauses. Die Mühle hieß von da an die "Bärenmühle" ****).


*) Heute erinnern noch die Namen Nikolsdorfer Gasse, Reinprechtsdorfer Straße und der Matzleinsdorfer Platz im 5. Bezirk an diese Dörfer.

**) Der Mühlbach war ein künstlich gemachter Arm der Wien, der in Gumpendorf begann und beim Naschmarkt wieder in die Wien einmündete. Der Mühlbach betrieb drei Mühlen: die Heumühle, die Schleifmühle und die Heiliggeistmühle (später Bärenmühle). Die Mühlen standen bis 1856; in diesem Jahre wurde der Mühlbach zugeschüttet und die Mühlen wurden weggerissen. Die heutigen Gassennamen Heumühlgasse und Schleifmühlgasse (4. Bezirk) erinnern noch an die Mühlen.

***) An der Stelle des Gasthauses steht heute das Hotel "Zur Stadt Triest" auf der Wiedener Hauptstraße

****) Noch heute heißt ein Mehlgeschäft auf dem Naschmarkt: "Mehlverkauf der Bärenmühle".


Quelle: Wiener Sagen, herausgegeben von der Wiener Pädagogischen Gesellschaft, Wien 1922, Seite 21