DAS FLIEGENDE HAUS

Der neunte Bezirk hat den Namen Alsergrund vom Aisbach erhalten, der früher ein kleiner, aber doch sehr wilder Bach war. Nachdem die Türken 1529 die ganze Gegend verwüstet hatten und der Bach immer wieder über die Ufer trat und alles überschwemmte, wurde der öde Landstrich lange Zeit gemieden.

Doch eines Tages kehrte wieder Leben in den Alsergrund ein. Unter den ersten Bürgern, die sich dort ansiedelten, war der Ziegelschläger Johann Thury mit seiner Frau. Er baute ein schönes großes Haus mit einigen Wirtschaftsgebäuden und seine Frau legte einen ausgedehnten Obst- und Gemüsegarten an.

In einer lauen Frühlingsnacht weckte das Plätschern des Aisbaches die beiden. Als sie aus dem Fenster blickten, sahen sie, daß der Bach ihren Garten und die Felder überflutet hatte. "Warum habe ich mein Haus nur in so einer furchtbaren Gegend gebaut! Um wieviel schöner wäre es doch auf dem Kahlenberg!", rief Johann Thury.

Im selben Augenblick erschien ein winzigkleines Männlein mit einer spitzen Mütze im Zimmer. "Ich bin dein Hausgeist", sagte der Wicht, "wenn du es wünschst, fliegen wir mitsamt dem Haus auf den Kahlenberg und leben dort auf der Höhe!" Ein ohrenbetäubendes Brausen setzte ein und mit starkem Zittern erhob sich das Haus mit seinen Bewohnern vom Boden und flog über die Dächer von Wien bis zum Kahlenberg.

Als Thury und seine Frau am nächsten Morgen aus den Fenstern schauten, waren sie begeistert vom Blick auf Wien. Doch schon nach einigen Tagen begannen sich Zweifel zu regen. Der Ziegelschläger mußte lange wandern bis er bei seinem Arbeitsplatz ankam, und seine Frau holte das Wasser für den Haushalt von weit her. Abends wünschte sich Johann Thury im Wald in der Ebene zu leben und der kleine Hausgeist erfüllte flugs den Wunsch.

Am folgenden Tag sahen sie, daß sie in der Nähe des kaiserlichen Schlosses Gatterburg waren. Begeistert glaubte Thury, daß der Kaiser nun bei seinem neuen Nachbarn Ziegel kaufen würde. Aber nichts geschah! Keiner kümmerte sich um den Ziegelschläger und sein Anwesen. Die Jagdgesellschaften des Kaisers nahmen auch keine Rücksicht auf seine Felder und den Garten, sondern zertrampelten alles was auf ihrem Weg lag. Zutiefst betrübt wünschte sich das Ehepaar mitten in der Stadt zu wohnen. Das Haus erhob sich mit Hilfe des Hausgeistes auch sogleich in die Lüfte, flog nach Wien und landete direkt am Kohlmarkt.

Am nächsten Morgen wurden sie vom Rattern der schweren Wagen und dem Geklapper von Pferdehufen geweckt. Staunend beobachteten sie das rege Leben in der Stadt. Da gab es Wirtshäuser, in denen man sein Geld verspielen konnte, viele Handwerker, die ihre Dienste anboten, Bettler und auch viel liederliches Volk. Als dann auch noch Feuer im Nebenhaus ausbrach, wünschten sich Thury und seine Frau nichts sehnlicher als wieder an ihrem Aisbach zu wohnen.

Der Hausgeist hatte ein Einsehen und das Haus flog geschwind zu dem Platz zurück, wo es ursprünglich gestanden hatte. Nun waren die beiden glücklich und zufrieden und erzählten später ihren Kindern und Enkeln von ihrem fliegenden Haus.

Noch heute erinnert die Thurygasse im neunten Bezirk an Johann Thury und seine Nachkommen.

Quelle: Wien in seinen Sagen, Eva Bauer, Weitra 2002, S. 209