DAS WUNDERKREUZ

Im 15. Jahrhundert war die Roßauerlände ein bedeutender Umschlagplatz für die Donauschiffe. Die Handelsgüter aus aller Herren Länder wurden ausgeladen, verkauft oder gegen andere Waren eingetauscht. Hier herrschte ein buntes Treiben und sehr oft ging es laut zu, wenn die Händler sich nicht über die Preise einig werden konnten. Die Donauschiffer, die immer froh waren, wenn die Verhandlungen nicht so schnell vonstatten gingen, weil sie dadurch eine kurze Ruhezeit erhielten, saßen am Flußufer und schauten hinaus auf den Strom.

Da rief plötzlich einer der Schiffsleute: "Seht da drüben schwimmt ein Kreuz auf dem Wasser!" Und wirklich sahen die aufgeregten Menschen mitten aus dem Strom ein riesengroßes Kreuz aufragen, das so ruhig auf einem Fleck blieb, als sei es verankert. Mit wunderschönen Goldverzierungen und Edelsteinen war es geschmückt, wie man es sonst nur in morgenländischen Kirchen sehen konnte.

Der seltsame Vorfall sprach sich schnell herum und aus der ganzen Stadt strömten viele Leute, unter ihnen auch einige geistliche Würdenträger, an das Ufer der Donau. Lange beratschlagte man, was zu tun sei, und zu guter Letzt schickte man einige kräftige Schiffer in einem Boot hinaus auf den Strom um das Kreuz zu bergen. Sobald der Nachen den Platz erreicht hatte, warf einer der Männer ein Seil über den Querbalken des Kreuzes und vertäute es dann am Heck des Bootes. Nun legten sich die Schiffer kräftig in die Ruder. Doch sobald das Seil sich spannte, blieb das Boot ruckartig stehen und ließ sich auch mit dem größten Kraftaufwand nicht vom Fleck bewegen.

Vom Ufer aus verfolgte die Menschenmenge gebannt den Vorgang und als das Kreuz sich nicht bewegen ließ, sanken die Menschen auf die Knie und sprachen von einem Wunderkreuz.

Unter den Zuschauern war auch ein frommer Klosterbruder aus dem Orden der Minoriten. Er bat um die Erlaubnis, das Kreuz ans Ufer holen zu dürfen. Ein Schiffer ruderte ihn hinaus und als sie angelangt waren, nahm der Mönch den Gürtel seines Ordensgewandes ab und schlang ihn um das Wunderkreuz, das sich nun ganz leicht zum Ufer schleppen ließ.

Mit feierlichem Gesang und Glockengeläute wurde das Kreuz, begleitet von einer riesigen Menschenmenge, in den Stephansdom gebracht und zur Andacht aufgestellt. Als aber am nächsten Morgen die Gläubigen ihr Gebet vor dem Kreuz verrichten wollten, war es verschwunden. Die ganze Stadt war in Aufruhr, bis sich die Kunde verbreitete, daß das Wunderkreuz in der Minoritenkirche gefunden worden war. Aber wie es dort hingekommen war, wußte keiner zu sagen.

Von nun an hing das Kreuz in der Minoritenkirche über dem Hochaltar. Im Lauf der Jahrhunderte wurde es in verschiedenen Kirchen aufgestellt, bis es 1938 wieder in den Stephansdom zurückkehrte und beim Brand 1945 zerstört wurde.

Quelle: Wien in seinen Sagen, Eva Bauer, Weitra 2002, S. 212