Richard Löwenherz wird in Wien gefangen
Als Richard Löwenherz von seinem Zuge übers Meer durch Ungarn
heimkehrte, fürchtete er den Herzog Leopold, den Beherrscher dieses
Gebietes, wegen der ihm in Akka zugefügten Beleidigungen und versuchte
deshalb heimlich und schnell, ohne Entfaltung königlichen Gepränges,
durchzueilen. Von Bedürfnis nach Speise getrieben, kehrte er in einer
Herberge (in Erdberg) bei Wien ein, nachdem er seine Diener bis auf wenige
entlassen hatte. Um nicht erkannt zu werden, mühte er sich beim Kochen
von Speisen mit Knechtsarbeit und briet ein Masthuhn an einem hölzernen
Spieße, den er mit eigener Hand drehte; doch hatte er vergessen,
seinen herrlichen Ring vom Finger abzuziehen. Einer von Herzog Leopolds
Dienern, der den englischen König gut kannte, betrat nun zufällig
die Schenke, in der Richard Löwenherz am Herde saß, bemerkte
den kostbaren Ring und faßte daher dessen Träger fest ins Auge,
den er dann erkannte. Er ließ sich aber nichts anmerken, sondern
kehrte in eiligem Laufe in der Stadt zurück und erfreute den gerade
anwesenden Herzog sehr durch die Nachricht von der Anwesenheit des englischen
Königs. Ohne Säumen wurden die Rosse bestiegen; mit einer Schar
Leute herbeieilend, nahm der Herzog den König gefangen, der das gebratene
Fleisch noch in der Hand hielt und deshalb sehr verlacht wurde. Der Herzog
führte ihn in die Stadt, schloß ihn in die engste Haft ein
und zahlte ihm so in würdiger Vergeltung heim, wie er es verdiente.
Quelle: Werhan, Karl, Die deutschen Sagen des Mittelalters, 2 Bde., München 1920, MA I, Nr. 143