Der Sieveringer Sagenkreis um Karl und Agnes

XII. [Version]

Meine Großmutter, erzählte eine Frau aus der Sieveringer Gegend, ging einst mit meiner Mutter, die damals noch ein Kind war, auf die Jägerwiese und sie legten sich zu der Jägersäule. Sie befanden sich in großer Not und im stillen hoffte die Großmutter, es werde ihnen die Agnes erscheinen und ihnen helfen. Die Mutter schlief bald ein, während die Großmutter weinend die zwölfte Stunde erwartete. Da sah sie plötzlich auf der Anhöhe der Jägerwiese aus dem dunklen Wald einen ungeheuren Reiter herauskommen, dessen riesiges Pferd ein Schimmel war, der wie die Sonne leuchtete und den finsteren Wald ringsum mit mächtigem Licht erfüllte. Lautlos sprengte er in drei Absätzen die Anhöhe der Jägerwiese herab. Als der Reiter die Frau erblickte, fragte er, was sie hier zu suchen habe.

"Holz", antwortete erschrocken die Großmutter.

"So nehmt dieses da mit nach Hause; es ist viel besser als anderes."

Die Großmutter folgte dem Befehle, nahm aber wenig davon, weil das Holz verfault schien und leuchtete. Während sie sich bückte, war der riesige Schimmelreiter verschwunden. Meine Großmutter nahm nun meine Mutter schnell auf den Arm und kam schweißtriefend zu Hause an. Des andern Tages wollte sie das Stückchen Holz aus der Tasche nehmen, und siehe da, es war schweres Gold. Sie lief eiligst zurück, fand aber nichts mehr.


Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 6, S. 16
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.