Buxbaums Sturz vom Stephansturm

Um seinen Lehrer und Meister zu verdrängen, hatte Buxbaum versprochen, in sehr kurzer Zeit einen zweiten Turm zu bauen. Je mehr er aber darüber nachdachte, wie er seiner Zusage nachkommen möge, desto mehr fing er an zu zweifeln, und es bemächtigte sich seiner Seele eine namenlose Unruhe. Wohl manchen Tag betrachtete er den vor kurzem vollendeten Niesen, und nicht selten stand er bis zur Stunde der Mitternacht vor dem wundervollen Gotteshause an der Stelle, auf der der zweite Turm emporsteigen sollte. Eben tat er dies wieder, und peinigende Gedanken ließen ihn lange nicht bemerken, was um ihn vorging. Als er endlich aufsah, erblickte er ganz in seiner Nähe ein altes Männlein, das ihn wehmütig betrachtete.

"Du erbarmst mir", begann die geheimnisvolle Erscheinung zu reden, "doch ich will dir helfen, und früher, als du zugesagt hast, soll der Bau vollendet sein. Dafür fordere ich nichts, nur darfst du während des ganzen Baues den Namen deiner Braut Maria nicht nennen!"

Buxbaum in seiner Not versprach zu halten, was gefordert wurde, und der Vertrag war geschlossen. Am nächsten Tage begann er den Bau, und dieser ging so rasch vorwärts, daß sich alles mit Recht darüber verwunderte. Buxbaum selbst, stolz über den Sieg, den er seinem Gegner und dem ungläubigen Magistrate gegenüber erkämpfen sollte, konnte kaum den Ausbruch der Freude unterdrücken. Jeden Abend überschaute er von dem höchsten Gerüste die Arbeit des Tages, und ihr Gelingen erfüllte seine Seele mit endlosen Plänen und Hoffnungen. So hatte er während des ganzen Baues noch nicht Zeit gewinnen können, an seine Geliebte zu denken, geschweige sie zu sehen; als er aber wieder eines Abends aus schwindelnder Höhe seine trunkenen Blicke niederwarf auf die dunklen Pfade der Menschen: stehe, da ging die Herrliche vorüber. Er vergaß des Versprechens und rief im Sturm der Freude:

"Maria!"

In demselben Augenblicke stürzte das Gerüst zusammen, er fiel in die Tiefe, und die Trümmer des zerborstenen Turmes bedeckten seinen Leichnam. Eine rote Gestalt erschien und verschwand bald wieder; aber das Hohngelächter der Hölle hallte weit über die Stadt hin.

Seit dieser Zeit hat man den Gedanken aufgegeben, einen zweiten Turm zu bauen; der Magistrat ließ Schutt und Steine wegräumen; von dem Unglücklichen aber war keine Spur zu finden.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 33, S. 43f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005