Das Donauweibchen

In der Zeit als Wien noch ein ganz kleines Städtchen war und an der Donau kleine Fischerhütten standen, lebte in einer solchen Behausung ein alter Fischer mit einem erwachsenen Sohn, die dort ihr Handwerk betrieben, wobei sie sich mehr auf dem Wasser, als auf dem Land aufhielten. Nur im Winter, wenn der Donaustrom fest zugefroren war, hausten die beiden Männer in ihrer Hütte, machten neue Netze oder besserten die alten aus, setzten ihre Kähne instand und lebten heiter und zufrieden. Dabei unterhielten sie sich oft von ihren Erlebnissen auf ihren Fischzügen und der Alte wußte von Wassergeistern und Nixen zu erzählen. Auf dem Grunde des Donaustromes sei ein großer Glaspalast, in dem der Donaufürst mit seiner Frau, seinen Söhnen und Töchtern, den zierlichen Nixen, lebe. Auf großen Tischen stünden umgestülpte irdene Töpfe, unter denen die Seelen der Ertrunkenen gefangengehalten werden. Der Neck werde oft als Jäger verkleidet am Stromufer lustwandelnd im Mondenscheine angetroffen, und man dürfe ihn ja nicht ansprechen, wenn man nicht sofort von ihm angegriffen und ins Wasser gezogen sein wolle. Die Nixen seien gar liebliche Mädchen, die aber namentlich junge Männer durch ihren verführerischen Gesang in den Strom lockten. Diese Wassergeister kämen sogar in die Tanzstuben und tanzten bis zum ersten Hahnenschrei. Dann müßten sie aber gleich nach Hause eilen, sonst würden sie von ihrem Vater, dem Neck, furchtbar gestraft oder gar getötet. Sei das Donauwasser des Morgens trübe, so hätten die Nixen Schläge von ihrem Vater bekommen, sei es aber blutig rot, dann lebten sie gar nicht mehr.

Aufmerksam hörte der Sohn den Erzählungen seines Vaters zu, aber er wollte sie nicht recht glauben, denn niemals hatte er solche Wassergeister gesehen. Plötzlich erleuchtete sich die Stube und eine Mädchengestalt in schimmernd weißem Gewande mit weißen Wasserrosen in dem schwarzen Haar stand vor den beiden Männern. "Erschreckt nicht" sagte sie, "ich tue euch nichts zuleide; ich komme nur, euch zu warnen. Bald wird Tauwetter eintreten, das Eis des Stromes wird krachend in Stücke gehen, die Hochflut wird sich über die Auen ergießen. Seid auf Eurer Hut und flieht weit in das Land hinein, sonst seid ihr verloren."

Die beiden Männer wußten nicht, ob sie wachten oder träumten, denn so plötzlich, wie die Wassernixe gekommen war, war sie auch verschwunden. Aber sie hatten sie doch beide gesehen und ihre liebliche Stimme gehört.

Sie glaubten ihr und rasch eilten sie trotz des Schneesturmes in die anderen Fischerhütten und erzählten, was ihnen die Wassernixe gesagt hatte. Schon in wenigen Tagen boten der Donaustrom und seine weiten Auen ein ganz verändertes Bild. Ein großer See war entstanden, aus dem nur die Rauchfänge der Fischerhütten hervorlugten, aber keiner von den Bewohnern dieser Hütten war ums Leben gekommen, denn alle hatten den Rat der guten Nixe befolgt.

Wieder war der Strom in seinen alten Lauf zurückgekehrt und alles war glücklich in der herrlichen Frühlingszeit. Nur der junge Fischer konnte seit dem Tage, als er die Nixe gesehen, nicht mehr den Frieden seines Herzens finden. Sein Vater merkte dies und böse Ahnungen erfüllten ihn.

Am liebsten fuhr nun der Sohn auf seinem Kahne auf dem weiten Donaustrom umher, sah träumerisch über die Wasser, und so traurig und schmerzbeklommen, wie er vom Hause fortging, so traurig kehrte er immer wieder heim. Eines Tages aber erschien er nicht mehr. Weinend saß der greise Vater vor seiner Hütte; sein armer Sohn hatte in den Fluten der Donau den Frieden seines Herzens gefunden und sein Kahn wiegte sich schaukelnd und herrenlos auf der weiten Wasserfläche. Das Donauweibchen hat seither niemand mehr gesehen.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 2, S. 1ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.