Das mißgestaltete Jesuskindlein

In der längstverschwundenen Klosterkirche der Siebenbüchnerinnen zum hl. Joseph befand sich die Statue eines Jesuskindleins, das leider einen schweren Kunstfehler aufwies, der seine zahlreichen Verehrer schmerzte und verdroß. Sein Haupt war nämlich ganz auf die Brust geneigt, sodaß man sein Antlitz gar nicht recht sehen konnte. Um diesem Übelstand abzuhelfen, wurde beschlossen, das Köpfchen abzusägen und es besser aufzurichten. Einer Klosterschwester, die der Statue besonders zugetan war, ging dieses bevorstehende, ihr grausam dünkende Verfahren sehr zu Herzen und, als sie mit dem Kindlein allein war, griff sie ihm wehmütig und barmherzig liebkosend unter das Kinn und an den Hals. Und wie sie das Köpfchen so streichelte, siehe, da fing es an, sich zu heben, und hob sich fort und fort, bis es zu aller Vergnügen und Trost holdselig in die Welt und auf seine Verehrer sah.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 88a, S. 103f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.