Wo die Jungfrau zum Fenster hinaussieht

Beim Thurybrückel befand sich ein Haus, das den Schild "Wo die Jungfrau zum Fenster hinaussieht" führte. Über die Entstehung dieses Hausnamens erzählte man sich folgende Sage.

Eine der furchtbarsten Landplagen unseres sonst so gesegneten Österreich war die Pest, die im Jahre 1410 verheerend wütete. Auch die Hauptstadt Wien wurde von diesem Übel arg heimgesucht, und alle Spitäler lagen voll Sterbender.

Im Spital zu Siechenals, wie damals diese Gegend hieß, lebte zu jener Zeit ein junger, rüstiger Krankenwärter, der allgemein beliebt war und sich immer als ein sorgsamer Krankenpfleger bewiesen hatte. Seit einiger Zeit wollte man jedoch in seinem Betragen gegen die Kranken eine Veränderung bemerkt haben. Man glaubte die Ursache davon in einem Liebesverhältnis suchen zu müssen, worin er mit einem Mädchen stand, das, in einem benachbarten Hause wohnend, sich zu jeder Tageszeit häufig am Fenster zeigte, um mit ihrem Geliebten, so oft es seine Dienstobliegenheiten nur immer gestatteten, zu liebäugeln.

Daß ein junger Bursche und ein noch jüngeres Mädchen liebäugeln, ist nun keine ungewöhnliche Sache - daß sie aber ihre Herzensangelegenheiten zu einer Zeit, wo der knöcherne Sensenmann seine reichliche Ernte einsammelte, so offenkundig an den Tag legten, das fanden die Siechenalser nicht in der Ordnung und verkündeten dem losen Handel ein böses Ende.

Ganz besonders schien aber das Mädchen von Liebe entbrannt zu sein, denn es gab den wohlmeinenden Ermahnungen seiner Angehörigen, sie möge die einer ehrbaren Jungfrau gezogene Linie des Anstandes nicht so offenkundig überschreiten, kein Gehör, sondern erschien nach wie vor am Fenster, um nach dem Geliebten oder wenigstens nach der Pforte des Spitals, woraus er treten mußte, mit unverwandten Augen zu blicken.

Da der Bursche dieses oft, ja, wie schon gesagt worden ist, in letzter Zeit sogar öfter, als es die Erfüllung seiner Pflicht erlaubte, zu tun pflegte, so kann man sich die Ungeduld und den Schrecken der harrenden Fensterguckerin vorstellen, als der sehnlichst Erwartete eines Tages gar nicht zum Vorschein kam.
Eine stürmische, regnerische Nacht folgte diesem für das Mädchen so peinvollen Tage- schwere Wetterwolken waren in den Gebirgen niedergegangen. Als die erste Morgendämmerung heranbrach, schwoll der vorüberfließende Alserbach hoch an und eilte mit reißender Gewalt der Donau zu. Das Mädchen war während der ganzen Nacht nicht vom Fenster gewichen und blickte noch beim Ausbruch des Morgens wie gedankenlos in den flutenden Bach hinab, an dessen Ufer das Spital stand.

Wie vom Blitze getroffen aber fuhr die Jungfrau aus ihrer Versunkenheit empor, als sie einen Leichnam auf dem Wasser daherschwimmen sah, und mit einem herzzerreißenden Schmerzenslaut stürzte sie zu Boden, als sie in dem Toten ihren Geliebten erkannte. Er war in wenigen Stunden ein Opfer der herrschenden Seuche geworden, und nach seinem Hinscheiden hatte sich gefunden, daß er sich viele Habseligkeiten von den Kranken zugeeignet hatte, die im Siechenhaus gestorben und seiner Wartung anvertraut gewesen waren. Diese Entdeckung erzeugte in den erhitzten Köpfen der Bewohner des Spitals den Verdacht, der Tote möge wohl aus Habsucht manchen, der wohl die Krankheit überstanden hätte, aus der Welt geschafft haben. Sie widersetzten sich seiner förmlichen Beerdigung und übergaben seinen, von ihnen mit Fluch überladenen Leichnam der Flut des angeschwollenen Alserbaches. Das Mädchen aber kam nicht mehr zur Besinnung, ein stummer Wahnsinn hatte sich seiner bemächtigt, und in der folgenden Nacht stürzte es sich von dem Fenster in den Bach hinab.

Es konnte nicht fehlen, daß sich nun in jenen leichtgläubigen Tagen bald die Sage verbreitete, die im Stande der Ungnade Dahingegangene finde in dem Wellengrabe keine ruhige Stätte und harre zu gewissen Zeiten an dem Fenster, aus welchem sie den Geliebten so oft gesehen und den unheilvollen Todessprung getan, der Stunde ihrer Erlösung.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 109, S. 121ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.