Die Totenmette bei St. Stephan in Wien
Als der Pfarrer von St. Stephan sich während einer Christnacht auf
die Festpredigt des nächsten Tages vorbereitete, hörte er durch
die Stille der Nacht plötzlich einen seltsamen Chorgesang, der aus
dem Dom zu dringen schien. Als er zu diesem hinüberblickte, sah er
die Kirchenfenster hell erleuchtet. Voll Erstaunen schickte er sich an,
der ungewöhnlichen Sache nachzugehen. Er nahm seinen Mantel und ging
in den Dom, wo er bereits viele Menschen versammelt sah, die zu seinem
Grauen alle mit langen Totenhemden bekleidet waren. Es waren da Alte und
Junge, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen, und viele darunter,
die er gut kannte. Da merkte er aber, daß eine Anzahl unter ihnen
schon seit Jahren gestorben war. Nun blickte er zum Hochaltar und zu seinem
Entsetzen erkannte er in dem Geistlichen, der die Messe las, sich selbst.
Nun schauderte es ihn, und mit zunehmenden Grauen starrte er die unheimliche
Menge an, die da um ihn versammelt war. Da dröhnte es vom Turme "Eins"
und wie vom Wind verweht war alles, was er eben gesehen. Er befand sich
nun ganz allein in dem großen Dom. Tieferschüttert kehrte er
in seine Stube zurück und verzeichnete diese unheimliche Begebenheit
in der Pfarrchronik. Dabei bedachte er auch, die Namen jener noch Lebenden,
die er kannte und unter den Gespenstern bemerkt hatte, aufzuschreiben,
sich mit eingeschlossen. Ein Jahr später (1364) raffte die Pest ihn
und alle, die er in der Chronik verewigt hatte, hinweg.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 49, S.
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Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, April 2005.