Das Wunderkreuz

Die Donaugegend bei dem Hause zum weißen Lamm in der Roßau war einst der Schauplatz eines sonderbaren Ereignisses.

Eines heiteren Morgens wurde die an den Ufern der hochströmenden Donau des Verkehrs wegen zahlreich versammelte Volksmenge nicht wenig überrascht, als sie in der Gegend des besagten Hauses aus der Tiefe des Wassers ein riesengroßes Holzkreuz auftauchen sah, dessen Form, Färbung und Goldverzierung ganz morgenländisch war und einen griechisch-byzantinischen Ursprung verriet.

Nachdem das Kreuz eine Strecke lang stromabwärts gegen die Stadt geschwommen war, machte es auf der Oberfläche des Flusses Halt, und alle Bemühungen des Volkes, dasselbe mittels Seilen und Stangen an das Land zu ziehen, waren vergebens. Unbeweglich und fest behauptete sich das Kreuz auf seinem beweglichen Lager.

Die Kunde dieses Wunders durchlief mit Blitzesschnelle die ganze Hauptstadt und deren Umgebung, so daß am Morgen des folgenden Tages Tausende und Tausende die Donauufer bedeckten. Auch der Klerus erschien in feierlicher Prozession, wobei sich ein frommer Klosterbruder aus dem Hause der Minoriten beim Landhause befand, dem es endlich, nachdem alle Versuche, das Kreuz an das Land zu ziehen, vergebens geblieben waren, gelang, dasselbe mit seinem darnach ausgeworfenen Ordensgürtel und zwar mit leichter Mühe an das Ufer zu bringen.

Es wurde hierauf nach St. Stephan gebracht und unter Gebet und Glockengeläute öffentlich aufgestellt.
Neues Erstaunen aber bemächtigte sich der Stadt, als das Kruzifix des anderen Morgens aus diesem Dome verschwunden war und sich bald darauf die Kunde verbreitere, es habe sich an einer Wand der Minoritenkirche, und zwar über der sogenannten Buchheimischen Kapelle, wiedergefunden, wohin es von unbekannten Kräften in der Nacht gestellt worden sei.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 80, S. 98f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.