Die Sage vom Tscherkessen

Als Sultan Süleyman, der großmächtige Khan, um an den unseligen Ungarn sowie an den Giauren deutschen Blutes Rache zu nehmen, im Jahre 936 (1529) die Festung Wien höchstpersönlich belagerte, da ließ er sie von neun Fronten her aus unzähligen Donnergeschützen unausgesetzt unter Feuer nehmen und ihre Widerstandskraft zermürben. Es wurde mehrfach Sturm gelaufen, und schon war man in die Mauern eingebrochen; auf den Wällen erscholl bereits der muslimische Gebetsruf, und schon war auch ein kühner Haudegen namens Cerkes durch eine Bresche, die die Geschütze gerissen hatten, auf seinem Roß bis mitten in die Festung vorgedrungen. Aber da fiel der tapfere Cerkes samt seinem Pferde als Blutzeuge des Glaubens; die Giauren schlugen den Sturmangriff des muslimischen Heeres zurück, und so wurde also der Hauptsturm auf den kommenden Tag verschoben.

Durch Allahs Fügung setzte jedoch am nächsten Morgen scharfer Frost ein; es fing an zu schneien und ein derartiger Schneesturm und Wirbelwind mit Hagelschlag brach hernieder, daß das ganze muslimische Heer unter diesen Schneemassen in äußerste Bedrängnis geriet. Sämtliche Schanzgräben wurden vom Schnee zugeweht, vielen Tausenden Männern erfroren Arme und Beine, viele tausend Zugtiere gingen vor Kälte zugrunde, und es entstand ein Wirrwarr wie am Jüngsten Tag.

Da baten sämtliche Krieger des Islams: "Gnade, Erbarmen, o großmächtiger Süleyman! Jedes Werk läßt sich nur zu seiner vorbestimmten Zeit vollbringen, wenn Allah der Allerhabene es will. Siebzehn Tage sind nun schon seit dem Kasim-Tag verstrichen. Unsere Absicht war ja nur, den Giauren eine Züchtigung zu erteilen, und dies ist geschehen. So wollen wir uns jetzt in Sicherheit bringen, um im Frühjahr - so Allah es will - diese Festung aufs neue zu belagern!" Sultan Süleyman willfahrte den Bitten seiner Krieger und hob die Belagerung auf.

Der Leichnam des Dayi Cerkes jedoch und der Kadaver seines Pferdes wurden von den fränkischen Ärzten mittels eines Decoctums mumifiziert und als Denkmal aufgestellt. Und so sitzt also dort unter einem Mauerbogen noch heute jener trutzige tscherkessische Haudegen auf seinem Rosse, angetan mit allen seinen Kleidern und Waffen, mit Panzer, Helm und Köcher, und auf dem Kopf den Tatarenkalpak. Und nach ihm hat also dieser Tscherkessenplatz zu Wien seinen Namen.

Den Giauren aber, der mit seiner Flinte diesen Helden niedergeschossen hatte, ließ König Ferdinand herbeiholen und sprach zu ihm: "Warum hast du einen solch tapferen Glaubensstreiter so hinterlistig mit der Flinte erschossen? Wenn du nämlich ein Mann wärest, dann hättest du ihn mit Bravour aus dem Sattel gehauen und ihm den Kopf abgeschlagen."

Mit diesen Worten übte der irrgläubige König Gerechtigkeit und ließ den Giauren, der den Tscherkessen umgebracht hatte, diesem gegenüber in die Wand mauern, daß er unter Qualen verendete. Sein stinkender Kadaver ist gleichfalls völlig eingetrocknet und befindet sich noch immer in jener Mauer.

Quelle: Teply, Karl, Türkische Sagen und Legenden um Wien, die Stadt des Goldenen Apfels der Deutschen, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 31 (1977), 225 - 284;

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Tief im Innern der Festung Wien liegt der Tscherkessenplatz. Bis zu diesem Platz drang nämlich während der Belagerung der Stadt durch Sultan Süleyman beim letzten Sturm ein alter tscherkessischer Haudegen vor, erlag aber schließlich der Übermacht, nachdem er unter den Giauren ein gewaltiges Blutbad angerichtet hatte. Aus Hochachtung für seine Tapferkeit ließ König Ferdinand den Helden und sein Pferd mumifizieren. Und so sitzt der Dayi Cerkes noch heute in voller Rüstung und mit allen seinen Waffen auf seinem Roß unter dem Mauerbogen jenes Hauses.

Quelle: Kreutel, Richard F., Im Reiche des goldenen Apfels (Osmanische Geschichtsschreiber, Bd. 2), Graz 2. A. 1963, S. 77 f.