Die Zeltburg des Sultans

Im Jahre 936 (1529) belagerte Sultan Süleyman, der großmächtige Khan, die Festung Wien. Schon war man in die Mauern eingebrochen; auf den Wällen erscholl bereits der muslimische Gebetsruf, und ein kühner tscherkessischer Haudegen war sogar durch eine Bresche bis in die Mitte der Stadt vorgedrungen, ehe er als Blutzeuge der Übermacht erlag. Am nächsten Tag sollte der Hauptsturm gelaufen werden. Doch an diesem Morgen fiel nach dem Willen Allahs der Winter mit solch entsetzlichem Ungestüm und mit solcher Kälte ein, daß eine Verwirrung wie am Jüngsten Tag im Heere entstand. Auf Bitten der Krieger des Islams mußte Sultan Süleyman die Belagerung aufheben. Um die Geschütze und das Feldgerät zu retten, ließ er sein Prunkzelt zurück.

Sultan Süleymans Zeltburg aber wurde von den Giauren abgebrochen und als Siegestrophäe in ihre Schatzkammer gebracht. An der Stelle jedoch, wo die Zeltburg gestanden hatte, errichteten sie dieses schmucke und stattliche Schloß in gigantischer Steinbauweise, das in seiner kunstvollen Anlage und mit seinen entzückenden Formen ein getreues Abbild dieser Zeltburg darstellt. Es soll aber nicht zur Abwehr eines Angriffs in Kriegszeiten dienen, sondern ist als ein großartiges Triumphmal erbaut worden, zur glorreichen Erinnerung daran, daß sie Sultan Süleyman gezwungen hatten, hier vor der Festung sein Prunkzelt zurückzulassen.

Das Gebäude mißt insgesamt viertausend Schritt im Umfang und hat sechzehn Ecken. An jeder Ecke haben sie einen stattlichen Turm errichtet, daß sich dem Beschauer bei seinem Anblick die Sinne verwirren. Das Schloß mit seinen hohen Mauern ist ganz in der Art und Weise und ganz nach demselben Plan aufgebaut worden, den auch heutzutage noch das himmelhoch gewölbte Staatszelt unseres Padischahs aufweist, mit all seinen zinnenbewehrten Umfassungsmauern. In den Türmen und im Schlosse findet man in getreuer Nachbildung alle Räume, in die sich zu Zeiten Sultan Süleymans eine Zeltburg zu gliedern pflegte: die innerste Kammer, die Schatzkammer, den großen Diwansaal, den Audienzsaal, die Gemächer für die Leibpagen und die Wachen usw., aber auch das Scharfrichterzelt und die Rundzelte und kleinen Zelte, die innerhalb einer solchen Zeltburg gewöhnlich aufgeschlagen waren.

Der Schlafbaldachin in dieser Zeltburg ruht auf achtundvierzig schlanken Marmorsäulen [.. .]. Auch das Privatgemach Sultan Süleymans ist hier nachgebildet, nach der Art eines Zeltes in persischem Stil, und die Türe dieses Raumes bleibt immer geschlossen. [.. .] Immer wenn dort ein neuer Kaiser seine Thronbesteigung hält, begibt er sich in feierlicher Prozession von Wien hierher, um im Privatgemache Sultan Süleymans sich von seinem obersten Priester mit dem Schwert umgürten zu lassen. Dann erst zieht er, wieder in prunkvollem Aufzuge, in Wien ein und besteigt dort den Thron.

Dieser herrlichste aller Lustgärten liegt auf einer Anhöhe vor dem kleinen deutschen Gebirge, einen guten Kanonenschuß von der Festung Wien entfernt. Daß aber die Giauren diesem Garten so große Ehrerbietung zollen und dort das Schloß mit dem Park angelegt haben, das geht alles nur darauf hinaus, daß sie sich brüsten wollen: "Bis hierher ist Sultan Süleyman, der Herr über ein derartig prächtiges Staats- und Thronzelt, gezogen gekommen und hat mit zweimal hunderttausend Mann die Feste Wien berannt; da überraschte ihn aber der Winter und er mußte, ohne die Festung erobern zu können, abziehen und seine Zeltburg zurücklassen." Um auf solche Weise ihren eigenen Ruhm zu vergrößern, haben sie also unter Aufwendung unermeßlicher Schätze und sagenhafter Reichtümer dieses prächtige Schloß mit dem herrlichen Garten errichtet. Aber so Allah der Allerhabene es will, ist all dieses letzten Endes ja doch wieder für uns erbaut worden: Allah gebe es, daß es endlich dem Islam anheimfalle.

Quelle: Teply Karl, Türkische Sagen und Legenden um die Kaiserstadt Wien, Wien/Köln/Graz 1980, S. 5f.