DIE BÜßERIN

Eine Sage erzählt von einer hochmütigen Frau, die ihren Reichtum nicht mit den Armen teilen wollte. Daraufhin war ihr Brot zu Stein geworden. Nun stand sie ein ganzes Jahr lang täglich als Büßerin betend vor dem Riesentor und bereute ihren Geiz und ihre Habgier.

Wenn der Mesner frühmorgens das mächtige Gittertor aufsperrte, öffnete sie die Torflügel und befestigte diese mit einem eisernen Haken an der Seitenwand. Da bemerkte die Büßerin eines Tages, daß dort, wo sie stets das Tor einhakte, ein Kreis im Stein war. Der Haken hatte im Laufe der Zeit den Kreis ins Gemäuer geschrieben und maß dieselbe Größe, wie jener Laib Brot, der ihr einst zu Stein geworden war. Sie sah dies als Zeichen Gottesfür die Aufrichtigkeit ihrer Buße.

Wiener Längenmasse, © Wolfgang Morscher

Wiener Längenmasse - Wiener Elle (77cm), Klafter (90cm)
dienten der Justiz bei der Überführung von betrügerischen Schneidermeistern und Stoffhändlern
der eingekerbte Kreis stammt von einem Eisenhaken, mit dem täglich der linke Torflügel des Gittertores befestigt wurde
© Wolfgang Morscher, 27.07.2001

Frohen Herzens kehrte sie heim und verteilte ihr Hab und Gut unter den Armen der Stadt.


Quelle: Der Stephansdom im alten Wien - Geschichte und Geschichten, Elisabeth Jaindl, Wien 1997, S. 10