DIE HERZOGSGRUFT IM STEPHANSDOM

Herzog Rudolf IV., der Stifter, war der Schwiegersohn des deutschen Kaisers Karl IV. aus dem Hause Luxemburg. Große Hoffnungen für die Zukunft knüpften sich an diese Verbindung des Habsburger und des Luxemburger Hauses. Die deutsche Kaiserkrone hatte bereits die Stirne Rudolfs von Habsburg und seines Sohnes Albrecht I. geziert, ging aber dann an den Herzog Ludwig von Bayern verloren. Jedoch nur vorübergehend blieb sie dem Bayernherzoge, um an das Haus Luxemburg überzugehen. So kam sie endlich an König Karl von Böhmen. Als deutscher Kaiser nahm sich dieser anfangs des Deutschen Reiches kräftig an. Um den fast unvermeidlichen Streitigkeiten bei der Wahl der deutschen Kaiser ein Ende zu bereiten, gab er die "Goldene Bulle" heraus, ein Gesetz, durch welches seine Fürsten bestimmt wurden, welche den deutschen Kaiser zu wählen hatten. Es waren dies vier weltliche: der König von Böhmen, der Markgraf von Brandenburg, der Herzog von Sachsen-Wittenberg und der Pfalzgraf bei Rhein, und drei geistliche: die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier.

Sein Schwiegersohn Rudolf IV von Österreich wurde nicht zum Kurfürsten gewählt, obwohl ihm diese Würde in erster Linie gebührt hätte. Darum beanspruchte Rudolf den Titel eines Pfalz-Erzherzogs, um nicht hinter den Kurfürsten zurückzustehen. Kaiser Karl IV. wollte die deutsche Kaiserkrone bei seinem Hause erhalten und suchte daher die Habsburger soviel als möglich zurückzudrängen. Aber vergebens, denn schon im Jahre 1438 kam die Kaiserwürde wieder an das Haus Habsburg und blieb bei demselben bis zum Jahre 1804, da sie der Kaiser Franz II. freiwillig niederlegte.

Rudolf IV. der Stifter nahm sich seinen Schwiegervater Karl IV. vielfach zum Vorbilde. Dieser baute in Prag den großen St.-Veits-Dom und gründete daselbst auch die erste deutsche Universität.

Rudolf IV. baute die Stephanskirche und gründete die Wiener Universität. Der Bau der Stephanskirche lag dem edlen Fürsten ungemein am Herzen. Bevor er nach Italien zog, um von dort seine Braut heimzuführen (seine erste Gemahlin war leider frühzeitig gestorben), lud er seine zwei Brüder Leopold den Biderben und Albrecht ein, mit ihm in die Stephanskirche zu gehen. Dort führte er sie an eine Stelle vor dem Hochaltar. Hier sahen sie zu ihrem Erstaunen eine tiefe Gruft. Diener waren zur Stelle, welche brennende Fackeln in der Hand hielten. Nun stiegen sie alle auf sein Geheiß in die Gruft hinab. Hier sprach Rudolf: "Meine lieben Brüder! Diesen großen Dom habe ich dem ewigen Gott zu seinem Ruhme und seiner Ehre zu bauen begonnen. Hier sollen andächtige Gebete von Millionen Menschen zum Himmel emporsteigen; es soll diese Kirche ein Wahrzeichen des frommen Sinnes unseres Hauses bleiben bis in die fernsten Zeiten. Ich muß nun fort in weite Ferne und weiß nicht, ob es mir nach Gottes weisem Ratschluß beschert bleiben wird, an diesem ehrwürdigen Gotteshause weiter zu bauen, wie es meines Herzens innigster Wunsch ist. Reicht mir eure Rechte, meine lieben Brüder, und schwört mir, daß ihr mich in dieser Gruft als den ersten zum ewigen Frieden betten werdet, die nun fürderhin die Herzogsgruft unseres glorreichen Hauses sein soll, schwört mir aber auch, daß ihr und eure Nachfolger nicht ruhen und nicht rasten werdet, bis der stolze Bau vollendet dasteht."

Tief ergriffen reichten ihm die Brüder ihre Hand zum heiligen Schwur. Dann verließen sie die Gruft, und bald war diese mit schweren Steinen verschlossen.

Nicht lange darauf verließ Rudolf sein so heißgeliebtes Wien und die Segenswünsche des ganzen Volkes begleiteten ihn auf seinem Zuge.

Ein Jahr war vergangen. Da gab es große Trauer in Wien und ganz Österreich. Der von seinem Volke so geliebte und so verehrte Fürst Rudolf IV., der Stifter, lag auf der Totenbahre. Sein Herz, das so ganz seinem Volke gehört hatte, schlug nicht mehr. Sein willensstarker Geist, der Österreichs Größe begründet hatte, war nicht mehr. Ganz Wien nahm Anteil an dem schmerzlichen Verlust, aus ganz Österreich waren Tausende herbeigeströmt, um dem edlen Herrscher das letzte Geleit zu geben. Hinabgesenkt wurde er in die Gruft, die er zur ewigen Ruhestätte für sich und seine Nachfolger gestiftet. Schmerzdurchwühlt, aber, wie es edlen Menschen ziemt, gottergeben standen wieder seine Brüder an der heiligen Stätte, wo sie ihm einst den Schwur geleistet. Sie reichten sich über dem Sarg ihre Rechte und erneuerten stumm ihren heiligen Schwur. Und was sie schwuren, hielten sie und ihre Nachfolger treu. Stolz erhob sich der große Stephansdom zu des Himmels Höhen als Wiens größtes und schönstes Wahrzeichen fürstlicher Frömmigkeit und fürstlichen Kunstsinnes für ewige Zeiten.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Wien, o. A., o. J., Seite 246