DER KOLOMANSTEIN

Nächst dem Bischofstor der Stephanskirche, am Türstock rechts, ist ein Stein eingemauert, und darauf ist eine Inschrift zu sehen; sie ist aber schon ganz verwischt und kaum mehr leserlich. Darin heißt es, auf diesem Steine sei einst der heilige Koloman gemartert worden, und das Volk erzählt darüber folgendes:

Der heilige Koloman war ein fremder Königssohn; er wanderte längs der Donau hin, denn er wollte ins Heilige Land ziehen.

In Stockerau ging er in eine Herberge. Es war aber damals eine unsichere Zeit, und es zog viel Gesindel herum, das trieb den Leuten das Vieh weg, wo es nur ging. So hielt man auch den Jüngling für einen Spion oder für einen Bösewicht, und er wurde festgenommen.

Zum Unglück verstand er die Sprache der Bewohner nicht, und die Schriften, die er bei sich hatte, konnten sie nicht lesen.

Darum wurde er ins Gefängnis geworfen und nach dem damaligen Brauch gefoltert, weil die Richter glaubten, daß er sich nur verstelle. Auf einem Steine hauchte der Jüngling seine Seele aus, und sein Leichnam wurde von den Knechten des Ortsrichters auf einen Baum gehängt, den Raben zur Speise.

Jetzt aber ereignete sich ein Wunder.

Kolomanstein, © Wolfgang Morscher

Kolomanstein St. Stephan
© Wolfgang Morscher, 28.07.2001


Die dürren Äste des Baumes fingen zu blühen an, und unzählige Singvögel flogen auf den Baum hin und sangen ohne Unterlaß in den Zweigen; auch ließ sich kein Rabe sehen. Alle diese seltsamen Vorfälle wurden den Richtern erzählt, und die dachten jetzt, der Fremde sei doch vielleicht unschuldig gewesen, und ließen nun seinen Leichnam eingraben.

Ein Jahr danach trat eine Überschwemmung ein, aber das Grab des Jünglings blieb unversehrt, und zudem war es über und über mit schönen Blumen bewachsen. Zu dieser Zeit kam auch der alte Waffenmeister Kolomans in Stockerau an und forschte sogleich nach seinem Herrn, weil er ihm ins Heilige Land nachziehen wollte.

Als er aber hörte, wie es dem Jüngling ergangen sei, da war er außer sich vor Schmerz, verfiel in tiefe Schwermut und starb bald danach. Das erfuhr auch der Landesherr und befahl sogleich, Koloman und seinen Getreuen in Melk gemeinsam zu bestatten.

Als man aber den Leichnam des Jünglings aus dem Grabe hob, da war daran kein Zeichen der Verwesung zu bemerken, ja er war noch geradeso, als ob man ihn erst jüngst bestattet hätte. Die zwei treuen Gefährten wurden dann mit großen Ehren zu Melk in ein gemeinsames Grab gesenkt. Der Stein aber, auf dem der edle Koloman gestorben ist, wurde später nach Wien gebracht und ist seither im Dom zu St. Stephan im Mauerwerk sichtbar.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Wien, o. A., o. J., Seite 224