DIE LINDE BEI ST. STEPHAN

Als der Baumeister Falkner im Jahre 1144 das Stephanskirchlein und den Pfarrhof bauen sollte, da sagte er: "Diese Linde hier muß umgehauen werden ! Hier muß der Pfarrhof stehen." Der Pfarrer Eberhard aber sagte: "Laßt mir doch meine liebe Linde stehen, ich hab sie so gern und ich sitze oft in ihrem Schatten. Sie ist genau so alt wie ich und sie soll nicht vor mir sterben."

Linde bei St. Stephan, © Wolfgang Morscher

Die Linde bei St. Stephan
© Wolfgang Morscher, 28.07.2001


Da wurde der Platz anders eingeteilt, so daß die Linde stehen bleiben konnte. der Baumeister sagte: "Ich werde den Pfarrhof so bauen, daß die Linde zu Eurem Fenster hineinsieht. Ist Euch das recht ?" Das war dem Pfarrer recht und er sagte: "Die Linde und ich, wir sind gute Freunde, sie soll mir immer nahe sein."

So kam es, daß die Linde stehen blieb; sie sah zum Fenster des Pfarrhofes hinein. Eberhard grüßte sie jeden Morgen und die Vögel in den Zweigen antworteten ihm mit ihren Morgenliedern.

Das blieb viele Jahre so. Die Linde wurde immer größer und dichter, der Pfarrer aber wurde alt und müde. Er hatte schon weiße Haare und immer im Frühjahr wurde er krank. Aber der Duft der Lindenblüten und der frische Gesang der Vögel machten ihn immer wieder gesund.

Nun aber war er siebzig Jahre alt geworden, ein böser Husten quälte ihn und ließ ihn nicht schlafen. Als einmal im Herbstedie Sonne so warm schien, als ob es Frühling werden wollte, setzte sich Eberhard ein wenig unter seine Linde. Er schaute in die Baumkrone hinauf und an vielen Stellen sah er den Himmel hindurchleuchten. Und als er die gelben Blätter herabfallen sah, da wurde er traurig und dachte: "Die Blätter sind die Tage meines Lebens. Wenn alle Blätter herabgefallen sein werden, dann werde ich tot sein. Und im Frühjahr wirst du vielleicht wieder blühen, du liebe Linde, und ich werde davon nichts mehr sehen." Mit diesen traurigen Gedanken ging er schlafen. Am nächsten Morgen war er ganz schwach, er ging langsam im Hause umher und mußte sich überall anhalten wie ein Kranker. Er legte sich bald wieder zu Bett und sagte: "Ich möchte noch so lange leben, bis die Linde wieder blüht. Einmal noch möchte ich den Duft der Lindenblüten atmen, dann will ich gerne sterben.

Es kam der Winter und dem Pfarrer ging es immer schlechter. Weihnachten kam und er konnte nicht mehr allein gehen; sein Diener mußte ihn führen, wenn er ein paar Schritte im Zimmer umhergehen wollte. Der Lindenbaum war kahl, der Frühling war noch weit fort und tiefer Schnee lag über dem Lande.

Eines Morgens wurde der Pfarrer wach und fühlte, daß er sterben müsse.

Er konnte sich nicht mehr im Bette aufsetzen, sein Atem war schwach und setzte zuweilen ganz aus, so daß er glaubte, er müsse ersticken. Da rief er den Kirchendiener und sprach zu ihm: "Ich bitte dich, mach das Fenster auf !"

"Aber Herr Pfarrer, es ist sehr kalt draußen."

"Mach nur auf, ich muß sehen...ob die Linde..."

Der Kirchendiener öffnete das Fenster und führte den Pfarrer hin. Aber was war das ? Eberhard taumelte erschrocken zurück. Die Linde war voll Blüten mitten im Winter.

Lange sah Eberhard hinaus. Dann verließen ihn die Kräfte und er sank zu Boden. Der Kirchendiener fürchtete sich und wagte es nicht, den Sterbenden zu berühren. Der Wind wehte durch den Baum und trieb die duftenden Blüten durchs Fenster, so daß sie die Leiche ganz bedeckten.


Quelle: Wiener Sagen, herausgegeben von der Wiener Pädagogischen Gesellschaft, Wien 1922, (aus K. Linke, Der erzählende Geschichtsunterricht, Hamburg 1914), Seite 12