DER SPRING IN HEILIGENBRUNN

Ein reicher Kaufmann zu Danzig hatte eine schöne Tochter, und diese traf das Unglück, daß sie nach einer schweren Krankheit erblindete, und keine Kunst der Ärzte vermochte ihr das verlorene Augenlicht wiederzugeben. Das hatte schon ein Jahr gedauert, als die Jungfrau mit ihren Eltern sich auf dem Johannesberg erging, und da sie bekümmert und erschöpft war und über ihr Unglück weinte, so wurde ihr aus einer nahen Quelle Wasser gereicht, die schmerzenden Augen zu netzen und die Glut zu kühlen. Aber siehe, wie sie sich mit dem Wasser benetzt hatte, wurden unversehens ihre Augen aufgetan, und sie ward wieder sehend. Da dankten Vater, Mutter und Tochter dem himmlischen Helfer im heißen Gebet und rühmten allüberall der Quelle Wunderheilkraft, und das Land ward ihres Rufes voll; viele Blinde wurden sehend, und die Quelle wurde heilig gehalten und der Ort, der sich um sie her anbaute, Heiligenbrunn genannt. Da kam ein Spötter und Wunderleugner nach Heiligenbrunn, der ritt auf einem alten blinden Gaul und rief: Ist euer Wasser so wunderwirkend, so muß es auch dem Vieh gedeihen. Wenn es meine Mähre sehend macht, will ich's glauben. - Und ritt das blinde Pferd nach der Heilquelle und ließ es aus ihr trinken. Und senkte das Tier seinen ganzen Kopf in den Born, und da es diesen aus dem Wasser zog, sahe der Ritter, daß es sehend geworden, weiter aber sahe er hernach nichts mehr, denn über seine Augen lagerte sich die Nacht der Blindheit. Aber von derselben Stunde an verlor das Wasser seine Heilkraft, wie an andern wunderwirkenden Quellen bei deren frevler Entheiligung auch geschehen.

Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853