Der Hungerkerer in Tapiau [Gwardeisk, Гвардейск]
Tief unterm Schlosse zu Tapiau ist ein Gewölbe, das stieß früher an die Sakristei der Krypta der Ordenskirche. Von diesem Gewölbe gehen schaurige Sagen, was alles in ihm die Ordensritter Greuelvolles vollbracht.
Zu Zeiten des Hochmeisters Heinrich von Richtenberg lebte ein frommer und gelehrter Mann, Dietrich von Kuba, der war beider Rechte Doktor und wohlgelitten bei zwei Päpsten, Paulus dem Andern und Sixtus, dessen Nachfolger, und der letztere ernannte ihn zum Bischof von Samland. Das war aber geschehen ganz gegen Wunsch und Willen des Deutschordensmeisters und seines Kapitels, und der Ernannte ward ihnen verhaßt, denn der Orden war verwildert und wollte keinen Römling und Papstgünstling und mehr ritterlich leben denn geistlich. Der Bischof aber gedachte in seinem Sinn unter des Papstes Schutz den verderbten Orden zu bessern und zu reformieren, und wer in der Welt mit Glück reformieren will, der muß eine eiserne Faust, eine eherne Stirne und ein feuriges Herz haben, sonst wird es ihm nimmer gelingen, denn die Welt will nicht reformiert und gebessert sein. Und des Bischofs Dietrich von Kuba Eigenschaften reichten nicht aus, einer zahlreichen ritterlichen stolzen und mutvollen Ritterklerisei allein gegenüberzustehen. Die Ordensgebietiger nahmen ihn gefangen und ließen ihn in das Schloß gen Tapiau führen, wo er in ehrlicher Haft nach Standesgebühr gehalten ward. Aber dort umspann schnöder Verrat den gefangenen Bischof; er wird zu einem Fluchtversuch beredet, entdeckt und nun sein Verderben beschlossen. Der Hochmeister und das Ordenskapitel verdammten den unglücklichen Mann zum Hungertode. In das erwähnte Gewölbe ward er gebracht, dort an die Mauer angeschmiedet und fortan ohne Trank und Speise gelassen. Acht Tage lang schmachtete er hier in unendlicher Qual. Am achten Tage hörte das Volk in der Kirche, da die Sakristeitüre zufällig offengeblieben war, eine heisere Stimme wimmernd rufen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mein Gott, mein Gott, erbarme dich meiner!
Diese Stimme ward nachher noch oft gehört, als des Bischofs Leiche längst beigesetzt war, was in Königsberg geschah. Die Untat ward ruchbar, der Papst ergrimmte gegen den Orden, aber der Orden schwur sich rein. Eine Zeit darauf erkrankte der Hochmeister heftig. Schon war er jedoch wieder auf dem Wege der Genesung, als er mit einem Male auffuhr und rief: Meinen Harnisch! Mein Roß! Der Bischof - ich muß fort! Der Bischof ladet mich vor Gottes Gericht! Herr, mein Gott, erbarme dich meiner! - Und sank um und war tot.
Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853