Kriemhilds Traum

König Dankrat von Burgund hinterließ nach allzufrühem Tod seiner Witwe Ute drei Söhne: Gunter, Gernot und Giselher, die den verwaisten Thron unter sich teilten, und eine Tochter Kriemhild. Das Mägdlein wuchs unter dem Schutz und Schirm ihrer Brüder zu einer holdseligen Jungfrau heran. Sie war so schön und dabei von so keuscher Sitte, daß sie allen Frauen des Reiches zum Vorbild wurde und der Ruf ihrer Tugend weit hinaus in andere Länder drang.

Große Helden waren den Burgunden Untertan, allen voran Hagen von Tronje, den man den Grimmigen nannte. Oben am Rhein, dort wo sich im grünen Wasser des Stromes schon die schneebedeckten Alpengipfel spiegeln, stand seine Burg; doch seit seinen Jugendtagen hatte er sie kaum mehr gesehen, denn selten entließ ihn der Dienst am Hof der Burgunden in Worms. Hagens Bruder Dankwart hatte als Marschalk den reisigen Knechten zu befehlen, sein Neffe Ortwin waltete des Truchseßamtes. Die Markgrafen Gere und Eckewart sprachen das Recht. Dann war noch da, von allen geschätzt, der Spielmann Volker von Alzey. So süß wie er strich keiner die Fiedel. Und dabei war er einer der Tapfersten. Rumold der Küchenmeister, Sindbold der Mundschenk und Hunold der Kämmerer sorgten nicht nur für Speise und Trank, sie führten auch gewaltige Klingen wie die andern Recken sonder Zahl, die den Königen verpflichtet waren. Wollte man alle ihre Namen nennen und von ihren Taten berichten, man würde nimmer damit fertig werden.

Einmal geschah es nun, daß Kriemhild träumte, sie habe sich einen Falken aufgezogen. Da seien zwei Adler gekommen und hätten das edle Tier vor ihren Augen zerrissen. Das ängstigte sie so sehr, daß sie ihrer Mutter erzählte, was ihr im Schlaf begegnet sei. Frau Ute wußte die Erscheinung also zu deuten: "Der Falke, den du zogst, ist ein edler Mann. Aber wenn Gott ihn nicht vor seinen Feinden beschützt, wirst du ihn bald verlieren."

Erleichtert seufzte die Maid: "Wenn ich nun weiß, was mir droht, kann ich mich vor dem Unheil hüten. Niemals werde ich dulden, daß mir ein Mann nahetritt."

"Kind", belehrte sie die erfahrene Mutter, "die Liebe kommt wie ein Sturmwind, du kannst dich vor ihr nicht schützen. Und glaube mir, höchste Seligkeit auf Erden wird dem Weib nur durch die Minne eines stolzen Mannes zuteil."
Kriemhilds Wangen röteten sich, und lebhaft widersprach sie: "Mag sein, daß du recht hast. Aber viele Mären künden, daß die Liebe den Frauen auch das tiefste Leid bereiten kann. So will ich beides meiden, Wonne und Schmerz, und meine Tage werden ruhig dahingehen."

Lange befolgte die Königstochter getreulich ihren Vorsatz. Viele Helden trugen nach der schönen Jungfrau Verlangen, doch sie wollte von Heirat nichts wissen und lebte mit ihren Anverwandten zufrieden auf der stolzen Burg am Ufer des Rheins. Doch eines Tages mußte auch Kriemhild sich der Liebe beugen.

Quelle: Die Nibelungen und die schönsten Heldensagen des Mittelalters, Gerhard Aick, 1985, S. 62f