§. 6. Uebergang.

Indem nun der Mythus, die Sage und Geschichte in der Zeit einander folgen, geht von selbst hervor, daß die Sage, z. B. von Sigfrid und Dietrich, nicht für sich allein, sondern nur in und aus ihrem Zusammenhang mit dem Mythus einerseits und der Geschichte anderseits als deren lebendige Mitte begriffen werden kann. Daß die Sage eine bestimmte poetische Form gewinnt, wie die von Sigfrid und Chriemhild im Gedicht von der Nibelungen Noth, macht sie zwar auch zum Gegenstand ästhetischer Betrachtung; aber diese ist nur in so fern eine gründliche, als ihr die Erkenntniß [Erkenntnis] des sagenhaften Inhaltes vorangeht. Denn dieser Inhalt und seine vielfach gestaltete Ausbreitung unter den Stämmen eines Volkes z. B. des Germanischen, ist der Quell, aus welchem der Dichter sich begeistert und durchdrungen von dem, was seines Volkes Gemüth auf's Tiefste bewegt, seine unvergänglichen Werke schafft. - Wir werden uns deshalb zuerst die religiöse Weltvorstellung der Scandinavier, so wie die auf Sigfrid, Chriemhild u. s. f. sich beziehenden Sagen derselben kurz vergegenwärtigen. Hierauf werden wir unsern heimischen Sagenkreis, dessen charakteristische Heroen, ihr Geschick u s.f. in allen Zweigen des großen epischen Baumes zu überschauen suchen und endlich Drittens die Concentration [Konzentration] aller Sagen und typischen Charactere [Charaktere] im verklärenden Spiegel des Gedichtes der Nibelungen betrachten, so daß wir in dasselbe nach den durch die geschichtliche Entwickelung vorg zeichneten Spuren gleichsam als Geweihete eintreten.

Quelle: Das Heldenbuch und die Nibelungen, Karl Rosenkranz, Halle 1829, S. 6f
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