BOCCA DELLA VERITA
Zu Rom machte Virgilius durch seine Kunst eine metallene Schlange, und wer beim Eidschwur seine Hand der Schlange in den Schlund steckte, wenn seine Sache nicht gut, sondern falsch war, der verlor seine Hand; schwor er aber einen wahren Eid, so zog er seine Hand wieder heraus ohne Schaden und Sorge.
So geschah es, daß ein Ritter seine Frau im Verdacht hatte mit seinem Kutscher; aber sie entschuldigte sich standhaft und erbot sich, bei der Schlange zu Rom einen Reinigungseid zu schwören. Der Ritter willigte ein, daß sie den Eid schwüre. Da setzten sie sich in den Wagen und fuhren gen Rom. Und als sie im Wagen saßen, sagte sie heimlich zu dem Kutscher, wenn sie nach Rom kämen, sollte er sich ein Narrenkleid anlegen, damit man ihn nicht erkennte, und sich so bei der Schlange unter das Volk mischen. Das tat er, und als sie nach Rom kamen, erkannte Virgilius durch seine Kunst, daß die Frau schuldig sei, und ermahnte sie, den Eid zurückzunehmen und nicht zu schwören. Das wollte sie aber nicht tun, sondern streckte ihre Hand der Schlange in den Schlund und schwur ihrem Manne, daß sie mit dem Kutscher nicht mehr zu schaffen gehabt hätte als mit dem Narren, der dort stünde. Und weil sie die Wahrheit gesagt hatte, zog sie ihre Hand unversehrt wieder aus dem Schlunde der Schlange. Da fuhr der Ritter mit seiner Frau wieder nach Hause und traute ihr hinfort immerdar; so entkam das Weib dieser Gefahr. Virgilius aber ward sehr zornig und ärgerlich und zerstörte die Schlange, weil das Weib entwischt war und ihren Herrn betrogen hatte. Und Virgilius sagte, die Frauen seien sehr weise zu allem Betrug; was aber ihre Güte beträfe, damit sei es übel bestellt. Eine recht weise Frau sollte so weise sein, auf ihre Seligkeit zu denken.
Quelle: Text nach dem Volksbuch 'Eine schöne
Historie von dem Zauberer Virgilius, seinem Leben und Tod und den wunderbaren
Dingen, die er durch Negromantie und mit Hilfe des Teufels vollbrachte.
Frankfurt am Main. Druck und Verlag von H. L. Brönner. Gedruckt in
diesem Jahr, ed. Simrock, S. 36 f.
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 15, S.
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