VIRGIL IM KORB
Darauf geschah es, daß Virgilius sich in eine schöne Jungfrau verliebte, der schönsten eine in ganz Rom und von dem reichsten und mächtigsten Geschlecht. Da bereitete Virgilius einen mächtigen Zauber, ihr sein Gemüt zu offenbaren. Und als sie sein Gemüt erfuhr und wußte, daß Virgilius in sie verliebt sei, da gedachte sie, wie sie ihn betrügen sollte. Und zuerst antwortete sie ihm, daß es sehr gefährlich sei, solche Dinge zu beginnen; aber zuletzt versprach sie, seinen Willen zu tun. Und wolle Virgilius bei ihr schlafen, so müsse er ganz stille vor den Turm kommen, darin sie schlief. Und wenn alles Volk schliefe, würde sie einen Korb herablassen an starken Stricken, darein möchte er sich setzen, so würde sie ihn hinaufziehen in ihre Kammer. Darüber war Virgilius sehr erfreut und sagte, das wolle er gerne tun. Nun war ein Tag gesetzt, an dem Virgilius zu dem Turm kommen sollte, der auf dem Markt von Rom stand, und in der ganzen Stadt war kein so hoher Turm mehr. Virgilius kam an den Turm, die Jungfrau ließ den Korb herab, Virgilius setzte sich hinein und die Jungfrau zog ihn hinauf bis zum zweiten Stockwerk. Und als er auf zehn Schuh nah an ihrem Fenster war, befestigte sie das Seil und ließ den Virgilius da hängen. Da sprach die Jungfrau: «Meister, Ihr seid betrogen. Morgen ist Markttag: da soll ein jeglicher Euch sehen und die Büberei, die Ihr treibt, daß Ihr bei mir schlafen wolltet. Ihr Zauberer, Ihr Schelm, Ihr Schalk, hier mögt Ihr bleiben.» Da ging sie hin und schloß ihr Fenster zu; Virgilius aber blieb hangen, bis der Morgen anbrach und alle Leute es sahen und auch der Kaiser sich schämte und der Jungfrau entbot, daß sie ihn herabließe. Das tat sie denn, und als er unten war, schämte er sich und sagte, er würde sich ehstens rächen.
Da ging er nach seinem Hofe, der der schönste in ganz Rom war, nahm seine Bücher und ließ alles Feuer in Rom ausgehen, und niemand mochte es von draußen hineinbringen. Und das dauerte einen ganzen Tag, daß Rom ohne Feuer war. Und Virgilius hatte Feuer genug, aber sonst niemand hatte es, noch konnte es machen. Der Kaiser, seine Barone und alles Volk in Rom verwunderten sich sehr, daß in der ganzen Stadt kein Feuer war. Sie dachten aber wohl, daß Virgilius es gelöscht hätte. Da schickte der Kaiser hin zu Virgilius und bat ihn, Rat zu schaffen, daß man Feuer bekäme.
Da sagte Virgilius: «Wollt Ihr Feuer haben, so laßt ein Gerüst auf dem Markt aufschlagen und stellt die Jungfrau nackt und im Hemde darauf, die mich ehgestern ließ im Korbe hängen. Und dann laßt in ganz Rom ausrufen, wer Feuer haben wolle, der solle auf den Markt an das Gerüste gehen und es zwischen den Beinen der Jungfrau holen, denn anders möge es niemand haben. Und wißt, daß einer dem ändern kein Feuer geben, lehnen noch verkaufen kann, sondern wer es haben will, muß es bei dem Gerüste holen gehn. Und ein jeglicher muß selber kommen, das Feuer zwischen den Beinen der Jungfrau zu holen.»
Der Kaiser und alle seine Herren sahen wohl, daß sie nach des Virgilius Worten tun mußten, wenn sie Feuer haben wollten. Darüber betrübten sie sich sehr, ließen aber das Gerüste auf den Marktplatz machen und die Jungfrau im Hemde daraufstellen, und ein jeglicher ging und holte Feuer zwischen ihren Beinen. Die einen kamen mit Kerzen, die ändern mit Lampen, der eine zündete Stroh an, der andere Späne, die Reichen aber hatten Fackeln. Drei Tage lang mußte die Jungfrau da stehen, sonst wäre Rom nie wieder mit Feuer versehen worden. Und am vierten Tage ging die Jungfrau ganz beschämt nach Hause und dachte wohl, daß Virgilius ihr diesen Schimpf angetan hätte. Darauf wartete Virgilius nicht mehr lange und nahm ein Weib.
Quelle: Text nach dem Volksbuch 'Eine schöne
Historie von dem Zauberer Virgilius, seinem Leben und Tod und den wunderbaren
Dingen, die er durch Negromantie und mit Hilfe des Teufels vollbrachte.
Frankfurt am Main. Druck und Verlag von H. L. Brönner. Gedruckt in
diesem Jahr, ed. Simrock, S. 17 - 19
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 12, S.
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