KORNFREVEL

Die alten Leute in Oberschlesien erzählen von einem glücklichen Zeitalter,das keine Not kannte; denn die Erde war fruchtbar, und das Korn trug Ähren, die bis zum Grunde der Halme reichten. Das war um die Zeit, da Christus noch auf Erden weilte. Auf seinen Wanderungen durch die Welt kam er auch nach Oberschlesien. Auf den Tarnowitzer Höhen ließ er sich mit seiner heiligen Mutter Maria zur kurzen Rast nieder. Er erfreute sich an dem wallenden Korne, das in beginnender Reife stand. Währenddessen kamen Bauern mit ihren Gespannen den Weg herauf, der voller Löcher war. Weil nun das Vorwärtskommen beschwerlich wurde, rissen die Fuhrleute ohne weiteres große Mengen von dem reifenden Korn aus und stopften die Weglöcher damit. Es kamen Frauen aus dem Dorfe und reinigten ihre Sammetschuhe mit den vollen Kornähren, der Dorfhirte trieb seine Schweine in das Feld, Kinder warfen ihr Brot in den Rinnstein und verlangten Kuchen. Als Christus das sah, ergrimmte er in heiligem Zorne, verfluchte das Land, das so verderbter Menschen Wohnsitz war, und machte es steinig und unfruchtbar. Erschrocken und voll Mitleid mit den Menschen faßte die Gottesmutter nach dem wogenden Korne und bat: «So viel, o Herr, laß ihnen, als ich mit meinen Händen halten kann!» Mild lächelnd sah sie Christus an und sagte: «Es sei, weil du für sie gebeten hast.» Das Land wurde darauf steinig, kalt und unfruchtbar. Die Ähren schrumpften zusammen und trugen nur gerade soviel, als die Hände Marias umfaßt hatten. (Oberschlesien)


Quelle: Richard Kühnau, Oberschlesische Sagen geschichtlicher Art, Breslau 1926, S. 497
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 82, S. 51