DER MÄUSETURM BEI BINGEN

Bingen ist gar ein alter Flecken, der auch sein' Namen vor Christi Geburt her behalten hat: dann viel alte Skribenten gedenken seiner. Er liegt gleich als in einem Rachen, da sich das Gebirg zu beiden Seiten zusammenzeucht, und lauft da ein schiff reich Wasser mit Namen die Nah in den Rhein. Hie ward vorzeiten Drusus, ein Stiefsohn des Kaisers Augusti erschlagen, oder wie die ändern sagen, er fiel zu Tod von seinem Pferd. Es ist noch ein Ort bei diesem Städtlein, das heißt von Druso der Drüselbrunn. Hie hat auch gewohnet vor vierhundert Jahren die Jungfrau Hildegard, die so viel heimlicher Offenbarung von Gott gehabt und beschrieben hat. Bei dieser Stadt steht ein Turn im Rhein, der heißt der Mäus-turn und hat den Namen von einer solchen Geschieht' überkommen. Es war ein Bischof zu Mentz, zu den Zeiten des großen Kaisers Otten, nämlich Anno Christi 914, der hieß Hatto, under dem entstund ein' großeTeurung, und da er sähe, daß die armen Leuf großen Hunger litten, versammlet er in ein' Scheur viel armer Leut und ließ sie darin verbrennen. Dann er sprach: «Es ist eben mit jenen als mit den Mäusen, die das Korn fressen und nirgendzu nütz sind.» Aber Gott ließ es nicht un-gerochen. Er geböte den Mäusen, daß sie mit Haufen über ihn liefen, ihm Tag und Nacht kein Ruhe ließen, wollten ihn also lebendig fressen. Da flöhe er in diesen Turn und verhofft, er würd' da sicher sein vor den Mäusen. Aber er mocht dem Urteil Gottes nicht entrünnen, sondern die Maus schwimmen durch den Rhein zu ihm. Da er das sähe, erkannt er das Urteil Gottes und starb also unter den Mäusen. Will du es für ein Fabel haben, will ich nicht mit dir darumb zanken, ich hab dies' Geschieht mehr dann in einem Buch gefunden. Du findest hie unden bei den Königen von Poland auch desgleichen Geschieht', das noch grausamer ist: dann es wurden Mann, Frau und Kinder von den Mäusen gefressen bis auf die Bein.


Quelle: Athanasius Kircher, Mundus subterraneus, 1665
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 28, S. 27