DIE WIEDERERWECKTE SCHEINTOTE

In dem jetzigen Grötschelschen Hause, geradeüber von der Linde, auf dem Neumarkte starb eine Jungfrau im Brautstande nach längerer Krankheit. Sie wurde mit vielem Putz und Geschmeide geschmückt und begraben. Der habsüchtige Totengräber, der damals dort wohnte, wo j etzt das Hospital ad St. Josephum steht, machte sich des Nachts mit einer Laterne und Grabwerkzeugen auf, um die Tote zu berauben. Als er ihr aber die Ringe vom Finger ziehen will, richtet sich die Tote auf und faßt ihn am Arme - sie war scheintot gewesen. Der Totengräber eilt erschreckt von dannen. Die Lebendigbegrabene aber nimmt die Laterne, geht nach Hause und klopft an. Man hört sie, fragt, wer da sei, öffnet aber erst aus Furcht und Bestürzung nach längerer Zeit. Zum Andenken an dies Ereignis ist die Linde gesetzt und der Stein errichtet worden. (Schlesien)


Quelle: Richard Kühnau, Oberschlesische Sagen geschichtlicher Art, Breslau 1926, S. 152 (nach O. Wilpert, in: Mitt. d. Schlesischen Gesellschaft f. Vk 2, 1895/96, S. 66). A: O. Wilpert, um 1890.
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 36, S. 32