DIE SPINNERIN AM KREUZ

Ritter Adalbert machte einen Kreuzzug nach dem Heiligen Lande, während seine Braut Adelheid daheim sich in Gram und Sehnsucht verzehrte. Nur im Gebete und im Besuche eines benachbarten Kirchleins fand die Verlassene Trost. Da gab ihr frommer Sinn ihr ein, dem Kreuze, für das ihr Verlobter im Morgenlande stritt, sich ganz zu weihen und an der Denksäule so lange zu spinnen, bis Adalbert in ihre Arme zurückkehrte. Täglich trug sie den Rocken hin und spann. Da erschien ihr eines Abends die blutige Gestalt ihres Geliebten und verkündete ihr, daß sie sich ihr Totenkleid spinne, denn erst im Himmel würden sie sich wiedersehen. Schon am folgenden Tage brachte ein Pilger die traurige Kunde, Ritter Adalbert sei im Heiligen Lande gefallen und habe ihm sterbend Adelheids Ring übergeben. Da spann sie noch sechs Wochen vor der Denksäule, teilte dann alle ihre Habe an die Armen aus und starb an gebrochenem Herzen, nachdem von ihrem Gespinst eben ihr Grabkleid fertiggeworden war. Alt und jung beweinte sie, und noch jetzt sieht der nächtliche Wanderer im Mondschein die schöne Spinnerin manchmal vor der Denksäule knien. (Niederösterreich)


Quelle: Gustav Gugitz, Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, Wien 1952, S. 134 f., Nr. 126 (nach Anton Tkany, Mythologie der alten Teutschen und Sklaven, Znaim 1827, II, S. 115)
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 50, S. 37