DAS WAHRZEICHEN VON TÜBINGEN

Als vor hundert Jahren zwei junge Gesellen und Kameraden auf die Wanderschaft zogen, um ihr Handwerk zu treiben, und der eine nach etlichen Jahren wieder zurückkam, der andre aber nicht, und man deswegen glaubte, er sei umgebracht worden, so wurde der erstere ergriffen und aus einigen Zeichen, zum Beispiel, weil man den Dolch des ändern bei ihm fand, für den Mörder gehalten, zum Tode verdammt und gerädert. Nicht lange hernach kam jedoch der andere lebendig, frisch und gesund nach Tübingen zurück. Den Dolch hatte er seinem Kameraden gelegentlich einmal geschenkt.

Darauf wurde zum ewigen Gedächtnis des Unglücklichen und zur Warnung vor voreiligem Todesspruch und Justizmord das Bild des geräderten Mannes in Stein gehauen und in die Kirchenmauer eingefügt. (Schwaben)


Quelle: Ernst Meier, Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, Stuttgart 1852, II, S. 353, Nr. 390 (nach Crusius, Schwäbische Chronik um 1586, II, S. 410; Anfang gestrichen).
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 40, S. 33