Herakles und Nessos

Die Reise ging nach Trachis, zu dem Freunde des Helden, Keyx. Es war die verhängnisvollste, die Herakles je unternommen hatte. Als er nämlich am Flusse Euenos angelangt war, fand er dort den Kentauren Nessos, der für Lohn die Reisenden auf seinen Händen über den Fluß zu setzen pflegte und dieses Vorrecht von den Göttern seiner Ehrlichkeit wegen erhalten zu haben behauptete. Herakles selbst bedurfte nun freilich seiner nicht; er durchschritt den Fluß mit mächtigen Schritten ohne fremde Beihilfe. Deianeira aber überließ er zum Hinüberschaffen dem Nessos, der ihn um den gewohnten Lohn ansprach; der Kentaur nahm die Gemahlin des Herakles auf die Schulter und trug sie rüstig durch das Wasser. Mitten in der Furt aber, durch die Schönheit des Weibes betört, wagte er es, sie mit schnöder Hand anzurühren. Herakles, der am Ufer war, hörte den Hilferuf seiner Frau und wendete sich schnell um. Als er sie in der Gewalt des rauhbehaarten Halbmenschen sah, besann er sich nicht lange, holte aus seinem Köcher einen beflügelten Pfeil hervor und schoß den Nessos, der mit seiner Beute eben ans Ufer emporstieg, durch den Rücken, so daß das Geschoß zur Brust wieder herausging. Deianeira hatte sich den Armen des zu Boden Sinkenden entwunden und wollte ihrem Gatten zueilen, als der Sterbende, der noch im Tode auf Rache sann, sie zurückrief und die trügerischen Worte sprach: "Höre mich, Tochter des Oineus! Weil du die letzte bist, die ich getragen habe, so sollst du auch noch einen Vorteil von meinem Dienste haben, wenn du mir folgen willst! Fasse das frische Blut auf, das mir aus der Todeswunde quoll und jetzt da, wo der Pfeil, vom Geifer der lernäischen Schlange vergiftet, mir im Leibe steckt, ganz verdickt und leicht zu sammeln ringsum steht, so wird es dir zu einem Zauber für das Gemüt deines Gatten dienen; färbst du damit sein Unterkleid, so wird er niemals ein anderes Weib, das ihm je vorkommt, mehr heben denn dich allein!" Nachdem er Deianeira dieses tückische Vermächtnis hinterlassen, verschied er augenblicklich an der vergifteten Wunde. Deianeira, obgleich sie an der Liebe ihres Gatten nicht zweifelte, tat doch nach Nessos Vorschrift, sammelte das verdickte Blut in ein Gefäß, das sie bei der Hand hatte und bewahrte es ohne Wissen des Herakles auf, der zu fern stand, um zu sehen was sie tat. Sie kamen darauf nach einigen anderen Abenteuern miteinander glücklich zu Keyx, dem König von Trachis, und ließen sich mit ihren Begleitern aus Arkadien, die dem Herakles überallhin folgten, dort häuslich nieder.