Theseus
Seine Geburt und Jugend
Theseus, der große Held und König von Athen, war ein Sohn
des Aigeus und der Aithra, der Tochter des Königs Pittheus von Troizen.
Seine väterliche Abkunft steigt zu dem König Erechtheus und
zu jenen Athenern auf, die nach der Sage des Landes aus dem Boden desselben
unmittelbar entsprossen waren. Von der Mutter Seite war Pelops, durch
die Zahl seiner Kinder der mächtigste unter den Königen des
Peloponnes, sein Ahnherr. Bei einem seiner Söhne, Pittheus, dem Gründer
der kleinen Stadt Troizen im Peloponnes, kehrte der kinderlose König
Aigeus von Athen, der dort etwa zwanzig Jahre vor Iasons Argonautenzug
herrschte, ein, weil er sein Gastfreund war. Diesen Aigeus, den ältesten
der vier Söhne des Königs Pandion, bekümmerte es schwer,
daß seine Ehe mit keiner Nachkommenschaft gesegnet war. Er fürchtete
nämlich gar sehr die fünfzig Söhne seines Bruders Pallas,
welche feindliche Absichten gegen ihn hegten und den Kinderlosen verachteten.
So kam er auf den Gedanken, sich heimlich und ohne Wissen seiner Gemahlin
noch einmal zu vermählen, in der Hoffnung, er werde so einen Sohn
erhalten, welcher die Stütze seines Alters und seines Reiches werden
könnte. Er vertraute sich seinem Gastfreunde Pittheus, und das gute
Glück wollte, daß gerade diesem ein seltsames Orakel zuteil
geworden war, das ihm verkündigte, daß seine Tochter kein rühmliches
Ehebündnis eingehen, aber einen berühmten Sohn gebären
werde. Dies machte den König von Troizen geneigt, dem Manne, der
schon zu Hause eine Gattin hatte, seine Tochter Aithra heimlich zu vermählen.
Als dieses geschehen war, blieb Aigeus nur noch wenige Tage zu Troizen
und reiste dann wieder nach Athen zurück. Als er am Meeresufer Abschied
von seiner neuvermählten Gattin nahm, legte er Schwert und Fußsohlen
unter ein Felsstück und sprach: "Wenn die Götter unserem
Bunde, den ich nicht aus Leichtsinn geschlossen habe, sondern um meinem
Hause und Land eine Stütze zu verschaffen, hold sind und dir einen
Sohn gebären, so ziehe ihn heimlich auf und sage keinem Menschen,
wer sein Vater ist. Ist er so weit herangewachsen, daß er imstande
ist, das Felsstück abzuwälzen, so führe ihn an diese Stelle,
laß ihn Schwert und Schuhe hervorholen und sende ihn damit zu mir
nach Athen." Aithra gebar auch wirklich einen Sohn, nannte ihn Theseus
und ließ ihn unter der Fürsorge seines Großvaters Pittheus
aufwachsen; den wahren Vater des Theseus verheimlichte sie dem Befehl
ihres Gatten gemäß, und der Großvater verbreitete die
Sage, daß er ein Sohn des Poseidon sei. Diesem Gott erwiesen nämlich
die Troizenier besondere Ehre als dem Schutzgott ihrer Stadt, brachten
ihm die Erstlinge ihrer Früchte zum Opfer, und sein Dreizack war
das Abzeichen von Troizen. So gab es dem Lande keinen Anstoß, wenn
die Königstochter einer Leibesfrucht von dem hochgeehrten Gotte gewürdigt
worden war. Als aber der Jüngling nicht bloß zu herrlicher
Körperstärke heranwuchs, sondern auch Kühnheit, Einsicht
und festen Sinn zeigte, da führte ihn seine Mutter Aithra zu dem
Steine, unterrichtete ihn über seine wahre Herkunft, und forderte
ihn auf, die Erkennungszeichen seines Vaters Aigeus hervorzuholen und
nach Athen zu schiffen. Theseus stemmte sich an den Stein und schob ihn
mit Leichtigkeit zurück; er band sich die Sohlen unter die Füße
und das Schwert an die Seite. Zur See zu reisen aber weigerte er sich,
obgleich Großvater und Mutter ihn inständig darum baten. Der
Landweg nach Athen war nämlich damals sehr gefährlich, weil
allenthalben Räuber und Bösewichte lauerten. Denn jenes Zeitalter
brachte Menschen hervor, die sich zwar in Leibesstärke und Taten
der Faust unüberwindlich zeigten, aber diese Vorzüge nicht zu
menschenfreundlichen Handlungen anwandten, sondern ihre Freude an Übermut
und Gewalttaten hatten und alles mißhandelten oder vertilgten, was
ihnen in die Hände fiel. Einige derselben hatte Herakles auf seinen
Zügen erschlagen. Um jene Zeit aber diente dieser gerade als Sklave
bei der Königin Omphale in Lydien und säuberte zwar jenes Land;
in Griechenland aber brachen die Gewalttätigkeiten von neuem hervor,
weil niemand ihnen Einhalt tat. Deswegen war die Landreise aus dem Peloponnes
nach Athen mit der größten Gefahr verbunden, und sein Großvater
beschrieb dem jungen Theseus genau jeden dieser Räuber und Bösewichte
und welche Grausamkeiten sie an den Fremden zu verüben pflegten.
Aber Theseus hatte sich längst den Herakles und seine Tapferkeit
zum Vorbild genommen. Als er sieben Jahre alt war, hatte dieser Held seinen
Großvater Pittheus besucht, und wie derselbe mit dem König
zu Tische saß und schmauste, durfte unter anderen Knaben der Troizenier
auch der kleine Theseus zuschauen. Herakles hatte beim Mahl seine Löwenhaut
abgelegt. Die übrigen Knaben nun machten sich, als sie die Haut erblickten,
auf die Flucht. Theseus aber ging ohne Furcht hinaus, nahm einem der Diener
eine Axt aus der Hand und rannte damit auf die Haut los, die er für
einen wirklichen Löwen hielt. Seit diesem Besuch des Herakles träumte
Theseus voll Bewunderung des Nachts von dessen Taten, und am Tage sann
er auf nichts anderes als wie er dereinst ähnliches unternehmen wollte.
Auch waren sie blutsverwandt, denn ihre Mütter waren Kinder von Geschwistern.
So konnte jetzt der sechzehnjährige Theseus den Gedanken nicht ertragen,
daß, während sein Vetter überall die Frevler aufsuche
und Land und Meer von ihnen reinige, er die sich ihm darbietenden Kämpfe
fliehen sollte. "Was würde", sprach er unwillig, "der
Gott, den man meinen Vater nennt, von dieser feigen Reise im sicheren
Schöße seiner Gewässer denken, was würde mein wahrer
Vater sagen, wenn ich ihm als Kennzeichen Schuhe ohne Staub und ein Schwert
ohne Blut brächte?" Diese Worte gefielen seinem Großvater,
der auch ein tapferer Held gewesen war. Die Mutter gab ihm ihren Segen
und Theseus ging davon.