Sturm auf Troia

Während sich dieses auf dem Berge Ida ereignete, wurde der Kampf von Seiten beider Heere mit Erbitterung und wechselndem Erfolge fortgesetzt. Apollon hauchte dem Aineias, dem Sohne des Anchises, und dem Eurymachos, dem Sohne Antenors, Mut und Stärke ein, daß sie die Achiver mit großem Verluste zurückdrängten und Neoptolemos nur mit Mühe das Treffen wiederherstellen konnte. Doch wichen die Troianer nicht eher, bis Pallas Athene selbst den Griechen zu Hilfe eilte. Nun mischte sich auch die Göttin Aphrodite in den Kampf und, um das Leben ihres Sohnes Aineias besorgt, hüllte sie diesen in eine Wolke und entrückte ihn aus der Schlacht.

Aus diesem unbarmherzigen Kampfe entrannen nur wenige Troianer, müde und verwundet, in die Stadt. Weiber und Kinder lösten ihnen wehklagend die blutigen Waffen vom Leibe, und die Ärzte hatten vollauf zu tun. Auch die Danaer waren vom Kampfe geschwächt und ermüdet, denn erst nach langem Zweifel hatte sich der Sieg ihnen zugewendet. Doch waren sie am anderen Morgen wieder munter und, nachdem sie eine gehörige Wache bei den Verwundeten zurückgelassen, zogen sie lustig und kriegerisch von den Schiffen den Mauern Troias wieder zu, und diesmal ging es zum Sturme. Die Griechen hatten ihre Scharen verteilt und eine jede hatte einen Angriff auf eines der Tore übernommen. Die Troianer aber kämpften auf allen Seiten von Mauern und Türmen herab, und überall erhob sich ein gewaltiges Getümmel. An das skaeische Tor wagte sich zuerst Sthenelos, der Sohn des Kapaneus, mit dem göttergleichen Helden Diomedes. Über dem Tore aber wehrten der ausdauernde Deiphobos und der starke Polites samt vielen Genossen die Stürmenden mit Pfeilen und Steinen ab, daß Helme und Schilde von dem Wurfe klangen. Am idaeischen Tore focht Neoptolemos mit allen seinen Myrmidonen, die in den Künsten der Bestürmung wohl erfahren waren. In der Stadt munterten hier die Troianer Helenos und Agenor auf und kämpften unermüdlich für die teure Heimat. An denjenigen Toren, die zu der Ebene und zu dem Schiffslager der Griechen führten, waren Eurypylos und Odysseus in unaufhörlichem Kampfe; von der hoch emporragenden Mauer aber hielt sie durch Steinwürfe der tapfere Aineias entfernt. An dem Gewässer des Simoeis kämpfte unter mannigfaltigen Drangsalen Teukros, und so andere anderswo. Endlich kam Odysseus auf seinem Posten auf den glücklichen Gedanken, seine Streiter die Schilde über ihre Häupter gedrängt aneinander emporheben zu lassen, so daß das Ganze wie das wohlgewölbte Dach eines Hauses erschien. Unter diesem Schilddache zogen die Scharen der Danaer, eng geschlossen und wie zu einem einzigen Körper vereinigt, daher, und furchtlos hörten sie das Getöse der zahllosen Steine, Pfeile und Lanzen, die von der Mauer herab aus den Händen der Troianer auf die Schilde herabprasselten, ohne einen einzigen Mann zu verwunden. So nahten sie sich, keiner von dem anderen getrennt, wie ein dunkles Wintersturmgewölk den Mauern, der Grund dröhnte unter ihren Tritten, der Staub wallte über ihren Häuptern, und unter dem Schilddache tönte vermischtes Gespräch durcheinander, wie Bienengesumse in den Körben. Freude erfüllte das Herz der Atriden, als sie das unerschütterliche Bollwerk einherziehen sahen; sie drängten ihre Krieger alle den Toren der Feste entgegen zum Sturmangriff und rüsteten sich, die Tore aus den Angeln zu heben, die Torflügel mit zweischneidigen Beilen zu durchbrechen und niederzuwerfen, und bei der neuen Erfindung des Odysseus schien der Sieg unzweifelhaft zu sein.

Da stärkten die Götter, die auf seilen der Troianer waren, die Arme des Helden Aineias, daß er einen ungeheueren Stein mit beiden Händen herbeibrachte und voll Wut auf das Schilddach hinunter schleuderte. Dieser Wurf richtete eine klägliche Niederlage unter den Stürmenden an, und sie sanken wie Ziegen des Berges, auf die ein losgerissener Fels herabrollt, zerschmettert unter ihren Schilden zu Boden. Aineias aber stand auf der Mauer mit strotzenden Gliedern, und seine Rüstung funkelte wie der Blitz; neben ihm stand unsichtbar in einer dunkeln Wolke der gewaltige Ares, der den Geschossen, die der Held dem Steine nachsendete, die rechte Richtung gab, daß Tod und Entsetzen unter die Reihen der Griechen fuhr. Laut ertönte von den Mauern herab der Ruf des Aineias, der die Seinigen anfeuerte, laut von unten herauf der Ruf des Neoptolemos, der die Myrmidonen ermahnte, standzuhalten, und so dauerte hier der Kampf den ganzen Tag fort ohne Erholung und Rast.

An einer entfernteren Seite der Mauer waren die Griechen glücklicher. Dort säuberte der kühne Lokrer Aias die Zinnen allmählich von Verteidigern, indem er bald mit dem Pfeil einen wegschoß, bald mit dem Speer einen niederstieß. Und jetzt ersah sich sein tapferer Waffengefährte und Landsmann Alkimedon eine ganz leer gewordene Stelle der Mauer, legte eine Sturmleiter an und stieg, auf sein mutiges Herz und seine Jugend vertrauend, voll Kriegslust und mit behendem Fuße die Stufen empor, den Schild über dem Haupte haltend. So gedachte er den Seinigen den Weg in die Stadt zu bahnen. Aber Aineias hatte aus der Ferne sein Beginnen beobachtet, und als jener nun eben über die Mauer hinweg sah und zum ersten- und letztenmal einen Blick in das Innere der Stadt warf, traf ihn ein Stein, aus der gewaltigen Hand des troianischen Helden geschleudert, ans Haupt; die Leiter ward zertrümmert unter der Wucht des Stürzenden: wie ein Pfeil von der Sehne geschnellt, wirbelte er durch die Luft und hauchte die Seele aus, noch ehe er unten am Boden ankam. Die Lokrer seufzten laut auf, als sie den Zermalmten auf der Erde liegen sahen. Jetzt faßte Philoktetes den Sohn des Anchises, der wie ein reißendes Tier die Mauern entlang tobte, ins Auge und richtete sein gepriesenes Geschoß auf ihn. Auch verfehlte er sein Ziel nicht, ritzte jedoch nur ein wenig das Leder des Schildes und traf dann den Troianer Menon, der von der Mauer herabfiel wie ein Wild, das des Jägers Pfeil erreicht hat. Aineias zertrümmerte dafür dem Toxaichmes, einem wackeren Gefährten des Philoktetes, Haupt und Knochen mit einem Steinwurfe. Grimmig blickte Philoktetes zu dem feindlichen Helden empor und rief: "Aineias! du glaubst der Tapferste zu sein, wenn du, wie schwache Weiber, von der Mauer herab deine Feinde mit Steinen bekämpfst. Wohlan, wenn du ein Mann bist, so komm in der Rüstung vor die Tore heraus und erprobe deinen Bogen und deine Lanze im Kampfe mit dem mutigen Sohne des Poias!" Der Troianer hatte nicht Zeit ihm zu antworten, denn die Verteidigung der Stadt rief ihn nach einer anderen Stelle der Mauer, und auch Philoktetes wurde zu neuem rastlosen Kampfe hinweggerissen.