ERSTES BUCH
Troias Erbauung

In uralten Zeiten wohnten auf der Insel Samothrake, im ägäischen Meere, zwei Brüder, Iasion und Dardanos, Söhne des Zeus und einer Nymphe, Fürsten des Landes. Von diesen wagte Iasion, als ein Göttersohn, seine Augen zu einer Tochter des Olymp zu erheben, warf eine ungestüme Neigung auf die Göttin Demeter und wurde zur Strafe seiner Kühnheit vom eigenen Vater durch den Blitz erschlagen. Dardanos, der andere Sohn, verließ, tiefbetrübt über den Tod seines Bruders, Reich und Heimat und ging hinüber auf das asiatische Festland, an die Küste Mysiens, da wo die Flüsse Simoeis und Skamander vereinigt in das Meer strömen und das hohe Idagebirge sich nach dem Meere abgedacht in eine Ebene verliert. Hier herrschte der König Teukros, kretischen Ursprungs, und nach ihm hieß auch das Hirtenvolk jener Gegend Teukrer. Von diesem König wurde Dardanos gastfreundlich aufgenommen, bekam einen Strich Landes zum Eigentum und die Tochter des Königs zur Gemahlin. Er gründete eine Ansiedlung, das Land wurde nach ihm Dardania und das Volk der Teukrer von nun an Dardaner genannt. Ihm folgte sein Sohn Erichthonios in der Herrschaft, und dieser zeugte den Tros, nach welchem die Landschaft nun Troas, der offene Hauptort Troia und die Teukrer oder Dardaner jetzt auch Troianer oder Troer genannt wurden. Nachfolger des Königs Tros war sein ältester Sohn Ilos. Als dieser einst das benachbarte Land der Phryger besuchte, wurde er von dem König Phrygiens zu eben angeordneten Kampfspielen eingeladen und trug hier im Ringkampf den Sieg davon. Er erhielt als Kampfpreis fünfzig Jünglinge und ebensoviel Jungfrauen, dazu eine buntgefleckte Kuh, die ihm der König mit der Weisung eines alten Orakelspruches übergab, wo sie sich niederlegen würde, da sollte er eine Burg gründen. Ilos folgte der Kuh, und da sie sich bei dem offenen Flecken lagerte, der seit seinem Vater Tros der Sitz des Landes und seine eigene Wohnung war, auch schon Troia hieß, so baute er hier auf einem Hügel die feste Burg Ilion oder Ilios, auch Pergamos geheißen, wie denn das ganze Wesen von nun an bald Troia, bald Ilion, bald Pergamos genannt wurde. Ehe er jedoch die Burg anlegte, bat er seinen Ahnherrn Zeus um ein Zeichen, daß ihm die Gründung derselben genehm sei. Am folgenden Tage fand er das vom Himmel gefallene Bild der Göttin Athene, Palladion genannt, vor seinem Zelte liegen. Es war drei Ellen hoch, hatte geschlossene Füße und hielt in der rechten Hand einen erhobenen Speer, in der anderen Rocken und Spindel. Mit diesem Bild hatte es folgende Bewandtnis. Die Göttin Athene wurde nach der Sage von ihrer Geburt an bei einem Triton, einem Meergott, erzogen, der eine Tochter namens Pallas hatte, die gleichen Alters mit Athene und ihre geliebte Gespielin war. Eines Tages nun, als die beiden Jungfrauen ihren kriegerischen Übungen oblagen, traten sie zu einem scherzhaften Wettkampfe einander gegenüber. Eben wollte die Tritonentochter Pallas einen Streich auf ihre Gespielin führen, als Zeus, für seine Tochter bangend, den Schild aus Ziegenfell, die Aigis, dieser vorhielt. Dadurch erschreckt, blickte Pallas furchtsam auf und wurde in diesem Augenblick von Athene tödlich verwundet. Tiefe Trauer bemächtigte sich der Göttin, und sie ließ zum dauernden Andenken ein recht ähnliches Bild ihrer geliebten Gespielin Pallas verfertigen, legte demselben einen Brustharnisch von dem gleichen Ziegenfell, wie der Schild war, um, der nun auch Aigispanzer oder Aigis hieß, stellte das Bild neben die Bildsäule des Zeus und hielt es hoch in Ehren. Sie selbst aber nannte sich seitdem Pallas Athene. Dieses Palladion nun warf, mit Einwilligung seiner Tochter, Zeus vom Himmel in die Gegend der Burg Ilios herunter, zum Zeichen, daß Burg und Stadt unter seinem und seiner Tochter Schutz stehe.

Der Sohn des Königs Ilos und der Eurydike war Laomedon, ein eigenmächtiger und gewalttätiger Mann, der Götter und Menschen betrog. Dieser dachte darauf, den offenen Flecken Troia, der noch nicht befestigt war wie die Burg, mit einer Mauer zu umgeben und so zu einer förmlichen Stadt zu machen. Damals irrten die Götter Apollon und Poseidon, die sich gegen ihren Vater Zeus empört hatten und aus dem Himmel gestoßen waren, heimatlos auf der Erde umher. Es war der Wille des Zeus, daß sie dem König Laomedon an der Mauer Troias bauen helfen sollten, damit die Lieblingsstadt des Zeus und der Athene der Zerstörung trotzende Mauern hätte. So führte sie denn ihr Geschick in die Nähe von Ilios, als eben mit dem Bau der Stadtmauern begonnen wurde. Die Götter machten dem König Laomedon ihre Anträge, und da sie auf der Erde nicht bloß müßig gehen durften, noch ohne Arbeit mit Ambrosia gespeist wurden, so bedangen sie sich einen Lohn aus, der ihnen auch versprochen ward, und fingen nun an zu frönen. Poseidon half unmittelbar bei dem Bau; unter seiner Leitung stieg die Ringmauer breit und schön, eine undurchdringliche Schutzwehr der Stadt, in die Höhe. Phoibos Apollon weidete inzwischen das Hornvieh des Königs in den gewundenen Schluchten und Tälern des waldreichen Gebirges Ida. Die Götter hatten versprochen, auf diese Weise dem König ein Jahr lang zu frönen. Als nun diese Frist abgelaufen war, auch die herrliche Stadtmauer fertig stand, entzog der trügerische Laomedon den Göttern gewaltsam ihren gesamten Lohn, und als sie mit ihm rechteten und der beredte Apollon ihm bittere Vorwürfe machte, so jagte er beide fort, mit der Androhung, dem Phoibos Hände und Füße fesseln zu lassen, beiden aber die Ohren abzuschneiden. Mit großer Erbitterung schieden die Götter und wurden Todfeinde des Königs und des Volkes der Troianer, auch Athene kehrte sich von der Stadt, die bisher ihr Schützling gewesen war, ab und schon jetzt war, einer stillschweigenden Einwilligung des Zeus zufolge, die eben erst mit stattlichen Mauern versehene Hauptstadt mit ihrem Königsgeschlecht und Volke diesen Göttern, zu welchen sich mit dem glühendsten Haß in kurzer Zeit auch Hera gesellte, dem Verderben überlassen.