Europa, deine Spiele

Erinnern wir uns an einige Bilder: Olympia heute, die Ruinen des antiken Stadions. Ein antiker Wagenlenker mit Vierergespann, dargestellt auf einem griechischen Vasenbild. Eröffnung der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen 1896; in der Königsloge im Stadion König Georg I. und der Kronprinz Konstantin. Auf einem anderen Foto sehen wir das Kampfgericht mit Pierre de Coubertin, dessen Energie und Einsatz wir die Olympischen Spiele der Neuzeit verdanken.

Die klassischen Olympischen Spiele fanden von 776 v. Chr. bis 393 n. Chr. alle vier Jahre statt. Sie sind Europas langlebigste "kulturelle Veranstaltung", wenn wir von der Römischen Kirche absehen. Pindar besingt in seinen Oden Olympia als alte Orakelstätte des Zeus und als eine Verheißung nie erlöschenden Ruhms für sportliche Siege. Der Preis ist schlicht: ein Kranz aus wilder Olive, geschnitten von einem Knaben mit goldener Sichel im heiligen Hain des Zeus. Olympischer Friede ist Gottes frieden. Männer, die vorher und nachher auf dem Schlachtfeld Gegner sind, messen in Olympia ihre Kräfte im friedlichen Kampfspiel.

Nach seiner Rückkehr erhält der Sieger in seiner Heimatstadt in Griechenland (und heute beispielsweise in Tirol) die verschiedensten Ehrungen, auch sehr materielle: eine Siegerstatue, lebenslange Ehrenrechte, die kostenlose Speisung im prytaneion, dem Rat- oder Gemeindehaus, (heute ist es eher ein Grundstück am Arlberg), einen Ehrenplatz im Theater und mancherorts sehr ansehnliche Geldpreise.

Olympia in Hellas: 412 v. Chr. benutzen die Athener die Spiele, um im feindlichen Gebiet Genaueres über Verratspläne ihrer Verbündeten zu erfahren. Der Gottesfrieden wird nicht immer eingehalten; die Gelegenheit wird zur Spionage mißbraucht.

Große Reden werden in Olympia gehalten. Man spricht vom gewonnenen Kampf gegen die Barbaren. 388 stürmt die Menge nach einer Rede des berühmten Atheners Lysios gegen den Tyrannen Dionysios I. von Syrakus das Prunkzelt der syrakusanischen Festgesandtschaft und plündert es.

"Gegen die maßlose Überbewertung des Sports" wendet sich Euripides in seinem Satyrspiel Autolykos: In Hellas gibt es eine Fülle von Übeln, das übelste aber sind die Athleten. Euripides, Xenophanes und später Isokrates fragen, welcher Ringkämpfer, Schnelläufer, Diskuswerfer oder Faustkämpfer seiner Stadt dadurch genützt habe, daß er bei einem panhellenischen Spiel den Kranz errang? Seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. spielt ohnehin das Berufsathletentum bei den Olympischen Spielen eine immer größere Rolle.

Das Schicksal eines Europäers spiegelt sich im Leben des Pierre Baron de Coubertin, geboren am 1. Januar 1862 in Paris, gestorben am 2. September 1937 in Lausanne. Sein Herz ist in Olympia beigesetzt. Coubertin hat fränkische, italienische und normannische Vorfahren. Der Knabe begeistert sich für das griechische Ideal. Ursprünglich beabsichtigt er, wie viele seiner Standesgenossen, Offizier zu werden, beginnt dann aber doch ein Studium. Hippolyte Taines Schrift Bemerkungen über England machen ihn mit der englischen Schulpädagogik vertraut. Er spürt, daß mit Frankreichs, mit Europas Schulen etwas, vieles, nicht in Ordnung ist. Also unterbricht er seine Studien an der Sorbonne, geht nach Eton, Rugby, Oxford und Cambridge und wird stark beeinflußt durch den Pädagogen Thomas Arnold (1795-1842), der als Schulleiter in Rugby gearbeitet hat. Intellektuelle, religiöse und moralische Disziplin soll der Entwicklung gesunder Charaktere dienen. Arnold betont nachdrücklich das Gemeinschaftsleben und die Bedeutung des Sports als Mittel zur Selbsterziehung der Jugendlichen.

Coubertin fordert nun in Paris, daß dort, wie in England, Schulsportvereine gegründet und daß Schulgebäude durch Sportfelder ergänzt werden. Nun, auf dem Kontinent interessieren sich jedoch sehr bald Militärs für den Schulsport, den sie als eine Vorbereitung der jungen Körper für den Dienst in der Armee verstehen. Coubertin hat als Siebenjähriger erschrocken die Katastrophe von Sedan erlebt; er ist ein französischer Patriot, gleichzeitig ein leidenschaftlicher Humanist: Der Sport soll als friedlicher Wettkampf dem friedlichen Zusammenleben der Völker dienen.

1894 hält Coubertin in der Sorbonne eine historische Ansprache:

"Lassen Sie uns Ruderer, Läufer, Fechter ins Ausland senden; das ist das Freihandelssystem der Zukunft... Deutschland hat das ausgegraben, was vom alten Olympia übrig geblieben war, warum sollte Frankreich nicht die alte Herrlichkeit wiederherstellen! ... die Charakterformung geschieht nicht durch den Geist: sie geschieht vor allen Dingen mit Hilfe des Körpers. Genau das wußten die Alten, während wir es wieder von ihnen lernen."

1896 finden die ersten Olympischen Sommerspiele in Athen statt. Ein Mädchen läuft die Marathonstrecke aus Vergnügen im Training in 4 Stunden und 30 Minuten. Der griechische Bauernsohn Spiridion Louis gewinnt den Marathonlauf, auch der zweite und dritte Platz fallen an Griechen.

Die Griechen hätten am liebsten die Olympischen Spiele für immer in ihrem Lande behalten - und das wäre für die olympische Idee wahrscheinlich das Beste gewesen. Coubertin setzt sich jedoch durch: Die Spiele sollen nun alle vier Jahre in einem anderen Lande stattfinden.

Die II. Olympiade fand 1900 in Paris statt (ohne besondere Anteilnahme der Bevölkerung). 1916 war Berlin vorgesehen …1940 ursprünglich Tokio, dann Helsinki. 1944 war London vorgesehen ...

Coubertin verband mit der Gründung der Olympischen Spiele zwei Ziele: die Völkerversöhnung und die Gewinnung der "breiten Massen", die durch den Sport demokratisiert werden sollten. (Der Athlet - "er mag Fürst oder Handwerker sein, das wird ihm beim Sprung nicht eine Elle einbringen".) Damit sind auf sportlichem Gebiet keimhaft die Grundsätze angelegt, die die Basis und den Ausgangspunkt einer jeden vernünftigen demokratischen Ordnung bilden. Doch Coubertins Träume gehen nicht in Erfüllung. Ein heißer Atem des Nationalismus und des großen Geschäfts (besonders bei den Winterspielen, die 1924 gegründet werden) weht um die Fahnen der Sieger, die auf dem Podest stehen.

Pierre de Coubertin hat in tiefer Resignation 1925 sein Amt als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees niedergelegt. In einer Schrift zur Reform des Sports fordert er 1930 "weniger Lärm, weniger Reklame, weniger Organisation".

Olympia wird heute manipuliert, ganz wörtlich, hart in die Hand genommen von den Staaten, die ihre Staatsamateure ausrüsten und sie aufrüsten für den Kampf um die Goldmedaille, in härtestem Training, wie Astronauten, wie Piloten von Kampfmaschinen, wobei die sozialistischen Staaten im olympischen Sieg zusätzlich einen Beweis für ihre Staats- und gesellschaftspolitische Überlegenheit sehen.



Quelle: Friedrich Heer, Europa Unser, Braunschweig 1977, S. 358ff.