DER BERGSPIEGEL

Im Allgäu liegt nahe bei Obermaiselstein eine zerklüftete Felswand, der sogenannte Hirschsprung. Hier fand einmal ein Bauer am Wege einen seltsamen Spiegel. Er hob ihn auf und sah hinein, aber wie erstaunte er: denn in dem Spiegel erblickte er nicht, wie man meinen sollte, sich selbst, sondern das Innere einer Felswand, an der unzählige kleine und größere glänzende Zapfen aus Gold und Silber herabhingen. Bei näherem Hinsehen erkannte er auch ein kleines Männlein, das zwischen den Zapfen hin und her kletterte und etliche davon abbrach und in einen Sack steckte. Nun wurde dem Bauern klar daß er einen Bergspiegel gefunden habe, wie ihn die Gold suchenden Venediger gebrauchten, denen er die in den Bergen verborgenen Schätze enthüllte.

Inzwischen hatte auch das Männlein den Spiegel in den Händen des Bauern bemerkt und fing an zu jammern und den Finder zu bitten, er möchte ihm sein Eigentum zurückgeben. Würde er den Spiegel nicht wieder erhalten, so müßte er von der Wand herunterfallen und dabei den Tod finden. Er versprach dagegen, den Bauern gut zu belohnen, wenn er den Fund wieder auf die Erde legen würde. Von den Bitten und Klagen des kleinen Wichtes gerührt, legte der Mann den Spiegel wieder auf die Fundstelle, und sogleich war die Felswand mit dem Männchen für ihn unsichtbar. Doch plötzlich stand der kleine Goldsucher vor ihm und fing an mit ihm zu reden. Er erzählte, daß er aus Venedig hierhergekommen sei, und überreichte dem Bauern als Belohnung einen großen Zapfen von reinem Golde. Hocherfreut betrachtete dieser das kostbare Geschenk, doch als er wieder aufsah, um dem Geber zu danken, war der Kleine schon verschwunden. Da wickelte der Bauer die blinkende Gabe in sein Taschentuch und schmiedete auf dem Heimweg Pläne, wie er damit seine Schulden bezahlen und seine Wirtschaft vergrößern wollte. So kam er nach Hause und wickelte seinen Schatz aus, um ihn der Frau und den Kindern zu zeigen, doch seine Freude verwandelte sich in Erschrecken, als er sah, dass der Zapfen nicht mehr glänzte und funkelte, sondern grau und wertlos erschien. Jetzt wußte der Bauersmann gar nicht mehr, was er denken sollte, und glaubte, der Venediger habe ihn betrogen. Indessen wollte er ihm diese Untreue nicht so hingehen lassen, deshalb entschloß er sich, nach Venedig zu reisen und das Männchen zur Rede zu stellen.

Er machte sich also auf den Weg und kam nach langer und beschwerlicher Wanderung endlich wohlbehalten zum Ziele. Erst in Venedig fiel ihm ein, daß er ja den Namen des Kleinen nicht kenne, und er hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, den Goldsucher zu finden, als dieser plötzlich auf der Straße vor ihm stand und ihn freundlich fragte, was ihn hierhergeführt habe. Da schwand dem Maiselsteiner das Mißtrauen, und er erzählte freimütig, wie es ihm mit dem goldenen Zapfen ergangen sei. Der Vendiger war nicht sonderlich überrascht, lächelte nur ein wenig und strich mit der flachen Hand über den Zapfen, und siehe da, er schimmerte wieder so golden wie zuerst. Nach vielen Dankesworten wollte sich der beglückte Bauer sogleich auf den Heimweg machen, jedoch der andere lud ihn ein, noch einige Zeit sein Gast zu sein und sich die schöne Stadt erst genau anzusehen. So folgte der Bauer dem Männchen nach seiner Wohnung und war nicht wenig überrascht, als er zu einem herrlichen Palast geführt wurde, und so groß war sein Erstaunen über die Schönheit der inneren Einrichtung des Hauses, daß er einmal über das andere ausrief: "Wenn nur meine Frau auch hier wäre und all die Schönheit sehen könnte!" Da erkundigte sich der Venediger, wie es seiner Frau und seinen Kindern ginge, und als der Bauer erwiderte, er hoffe, daß sie wohlauf seien, doch habe er sie ja selber seit Wochen nicht gesehen, da fragte der Goldsucher, ob er sie denn gern einmal sehen möchte, und als sein Gast das bejahte, ging er in das Nebenzimmer und kam zurück mit dem Spiegel in der Hand, den er einst am Hirschsprung verloren hatte; er ließ den Bauern hineinsehen, und dieser erkannte darin deutlich sein Haus im Heimatdorf, und in der Stube saß die Bäuerin und gab dem kleinsten Kind in der Wiege gerade Brei zu essen.


Quelle: Oskar Ebermann, Sagen der Technik, o. J., S. 75