DER SPRECHENDE BRONZEKOPF

In England lebte einst ein weiser Mann namens Roger Baco. Baco beschäftigte sich nach der Gewohnheit seiner Zeit mit seltsamen Versuchen; er suchte etwa ein Mittel, um Blei in Gold zu verwandeln, oder trachtete danach, den Stein der Weisen zu finden. Diese Versuche machte er im geheimen, nur ein Freund, der Bruder Bungey, wußte darum, und sein einfältiger Diener Miles, der aber nichts davon verstand.

Nun hatte Baco in alten Geschichten gelesen, daß mehr als einmal Feinde über das Wasser gekommen und in England eingefallen waren. Da er sein Vaterland liebte, so dachte er darüber nach, wie er es vor künftigen Überfällen schützen könnte, und er ging mit der Absicht um, England rings mit einer hohen ehernen Mauer zu umgeben. Indessen ließ er diesen Plan bald wieder fallen, da er ihn für unausführbar hielt. Statt dessen glaubte er seinen Zweck erreichen zu können, wenn er an der Küste entlang an solchen Stellen, wo Feinde landen könnten, ab und zu einen ehernen Mann aufstellte, der sprechen könnte; denn er meinte, wenn jemand sich der Küste näherte und den Bronzemann würde stehen sehen und rufen hören, so würde er erschrecken und schleunigst das Weite suchen.

Also machte er sich mit Bungey an die Arbeit und formte einen Kopf aus Bronze. Dann bildeten sie die Kinnbacken, Zunge, Zähne und alle anderen Teile aus dem Inneren des Kopfes und setzten sie sorgfältig in den Bronzekopf ein. Aber obgleich sie alles bedacht hatten, was zu den Sprechwerkzeugen gehörte, sprach der Bronzekopf doch niemals auch nur ein einziges Wort. Da waren sie beide ratlos; sie lasen und studierten, aber sie konnten nicht weiterkommen. Da gingen sie bei Nacht in einen dunklen Wald und riefen den Geist der Finsternis an, er möchte ihnen sagen, was sie tun sollten. Der Böse gab ihnen zur Antwort, sie sollten sechs verschiedene Kräuter sammeln, sie In heißem Wasser sieden, bis ein starker Dampf herausströmte, und diesen Dampf sollten sie dann in den Bronzekopt steigen lassen. Sodann sollten sie den Dampf beständig beobachten, denn früher oder später würde er wirken, und der Bronzekopf würde sprechen, und sie würden dann wissen, wie sie es machen müßten.

Also gingen die beiden zurück in ihre Zelle. Sie beschafften sich die kostbaren Kräuter, dämpften sie und beobachteten die heißen Dämpfe Tag und Nacht. Aber nach drei Wochen wurden sie schrecklich müde, und obgleich sie sich gegenseitig wach zu halten suchten, so war es doch klar, daß sie beide möglicherweise gerade schlafen würden, wenn der Kopf spräche. Das ging natürlich nicht, deshalb rief Baco seinen Diener und sagte zu ihm: "Miles, setz dich hierher und paß auf! Dieser Bronzekopf wird vielleicht bald sprechen. Wir beide haben schon so lange darauf gewartet, daß wir unbedingt schlafen müssen. Du sollst uns nun vertreten; du brauchst keine Angst zu haben, nur in dem Augenblick, wo du den Kopf sprechen hörst, komm schnell und wecke uns."

Darauf legten sich die beiden nieder und waren im Augenblick fest eingeschlafen. Miles war sich nun selbst überlassen und fing an, auf seiner Fiedel zu spielen und ein Lied zu singen, um sich wach zu halten. Auf einmal gab es ein lautes rasselndes Geräusch, und der Bronzekopf Öffnete den Mund und sprach gerade die drei Worte:


"Es ist Zeit."

"Schön, schön", sagte sich Miles, "das ist nichts Neues; deshalb will ich meinen Herrn nicht wecken." Und zu dem Kopf sagte er laut: "Sprich weiter, alter Bronzekopf! Hat mein Herr vielleicht deshalb ein Vierteljahr an dir herumgearbeitet, daß nachher weiter nichts herauskommt als: es ist Zeit?" So schalt der brave Miles und wartete wieder eine halbe Stunde; da tat sich der Mund wieder auf, und es kamen die Worte heraus:


"Es war Zeit"

"Sicherlich", sagte Miles verächtlich, "meinst du vielleicht, ich würde meinen Herrn wegen einer derartigen Neuigkeit wecken? Freilich war es Zeit, du Dummkopf!" Dann sang sich der lustige Miles wieder ein Liedchen, und so verging noch eine halbe Stunde. Dann gab es ein tiefes summendes und brummendes Geräusch, und der Bronzekopf Öffnete seinen Mund noch einmal und rief aus:


"Die Zeit ist vorbei."

Und damit fiel er vornüber vom Tisch herunter und zerbrach in tausend Stücke. Und das gab einen schrecklichen Lärm, und Feuerflammen zuckten umher, so daß der arme Miles vor Angst halb tot war. Er ließ seine Fiedel fallen, fiel auf die Knie, und das ganze Zimmer war voll Rauch.

Von dem Lärm und Rauch wurden Baco und Bungey plötzlich wach und liefen herbei. Da sahen sie Miles weinen, und der Kopf lag in Stücken am Boden. "Was ist das?" rief Baco, "was hast du gemacht?" Aber Miles klagte: "Er ist ganz von selber heruntergefallen."

"Und hat er nicht gesprochen?" - "Nichts, gar nichts, nicht ein bißchen", sagte Miles, "bloß ein paar sinnlose Worte; ein Papagei hätte mehr sagen können." "O weh", riet da Baco aus, "hättest du uns doch nur geweckt, dann wären wir berühmte Männer geworden, und England wäre vor allen Feinden sicher gewesen", und zornig erhob er die Hand, um Miles zu schlagen. Aber Bungey hielt ihn zurück und erinnerte ihn daran, daß Miles ein unwissender Mensch sei', der nicht wisse, was er tue.

So geschah es, daß aus dem Bronzekopf nichts wurde, und nun muß England noch immer selbst für den Schutz seiner Küste sorgen.

Quelle: Oskar Ebermann, Sagen der Technik, o. J., S. 40