MOROLFS FLUCHT

In Jerusalem herrschte einst König Salman; seine Gattin war Salme, die König Fore von Wendelsee, der jenseits des Meeres herrschte, mit ihrem Einverständnisse durch List entführte. König Salman hatte einen klugen Ratgeber namens Morolf, der sich verkleidet auf den Weg machte, um Salme ausfindig zu machen. Als er an Fores Hof kam, hatte er die Königin bald entdeckt, wurde aber erkannt und gefangen gesetzt. Der Tod war ihm gewiß, zumal Salme seine Weisheit fürchtete, und obwohl er allen Scharfsinn daransetzte, sich zu retten, mißlang auch sein erster Versuch, zu fliehen. Er ließ die Hoffnung aber dennoch nicht sinken, und obwohl zwölf Krieger ihn bewachten, gelang es ihm doch, ihre Aufmerksamkeit zu täuschen. Mit einem Schlaftrünke versetzte er sie in tiefe Bewußtlosigkeit, verkleidete sich als Kämmerer und wagte es, so vor Fore und Salme zu treten, die ihn beide nicht erkannten. Auch ihnen wußte er etwas von seinem Schlaftrünke beizubringen und verließ sodann die Burg. Am Strande des Meeres hatte er ein Schifflein vorbereitet, auf dem er hinaus auf die See fuhr. Als es Morgen wurde, sang er mit lauter Stimme ein Lied, das bis zur Burg erschallte, so daß Fore es hörte, der eben erwachte. Er rief dem Flüchtigen zu, er möge doch verweilen, aber Morolf wollte davon nichts wissen. Er fragte nur, ob er Grüße an König Salman bestellen solle, den er jetzt aufsuchen und dazu bewegen werde, mit einem starken Heere gegen Fore zu ziehen. Da sandte Fore Morolf vierundzwanzig Schiffe nach, die ihn bald eingeholt hatten. Dennoch gelang es ihnen nicht, ihn zu fangen. Denn das Schifflein war besonderer Art. Vor aller Augen ließ sich Morolf mit ihm bis auf den Meeresgrund hinab und war so vor seinen Feinden sicher. Eine Röhre ging vom Schiffe in die Höhe, durch die schöpfte Morolf Atem, und so brachte er vierzehn Tage auf dem Meeresgrunde zu. So entging er der Gewalt Fores und erreichte nach langer Fahrt den Hof König Salmans, dem es später gelang, sich an Fore zu rächen und Salme wiederzugewinnen.


Quelle: Oskar Ebermann, Sagen der Technik, o. J., S. 70