TOKI

Im Dienste des Königs Harald Blauzahn, der im zehnten Jahrhundert über Dänemark herrschte, stand einst ein Mann namens Toki. Toki war ein tapferer und gewandter Mann, dem es besonders beim Bogenschießen keiner gleichtat. Gerade durch seine Tüchtigkeit zog er sich den Neid und die Gehässigkeit mancher Männer am Hofe zu, und als er sich einst gerühmt hatte, er getraue sich einen auf einen Pfahl gesteckten Apfel aus der Entfernung auf den ersten Schuß mit seinem Pfeile zu durchbohren, ward das dem Könige hinterbracht, der Toki übel gesinnt war. Er verlangte von ihm, seine Worte wahr zu machen und befahl ihm, den Schuß nach dem Apfel wirklich zu tun Der Apfel sollte aber nicht auf einen Pfahl gesteckt, sondern auf das Haupt von Tokis Sohn gelegt werden. Wenn Toki sein Ziel verfehle, dann solle ihn der Fehlschuß das Leben kosten.

Toki hatte keine andere Wahl als die, den Befehl des Königs auszuführen. Er legte seinem Sohne selbst den Apfel aufs Haupt, mahnte ihn, sich nicht zu rühren, und trat dann zum Schusse an. Er nahm drei Pfeile aus dem Köcher, legte den ersten auf die Sehne und schoß; wirklich trat er den Apfel und erfüllte mit diesem Meisterschusse den Befehl des Königs, der von ihm wissen wollte, warum er drei Pfeile aus dem Köcher genommen habe, obwohl ihm doch nur ein einziger Schuß eingeräumt gewesen sei. Da antwortete Toki, mit den anderen Pfeilen hätte er nach Harald selbst geschossen, wenn er den Apfel verfehlt hätte.

Harald sah wohl, in welch furchtbarer Gefahr er geschwebt hatte, und obwohl er Tokis freimütige Worte nicht bestrafte, sann er doch darauf, ihn zu verderben. Toki war auch ein ausgezeichneter Schneeschuhläufer, und darum verlangte er von ihm, seine Kunst auf einem steilen Berge zu zeigen. Das Gebirge stürzte unmittelbar zum Meere ab, und der Hang lief über dem Wasser in steile Felshänge aus. Zudem lag nur wenig Schnee, der Weg war holprig und voll Glatteis. Toki sah wohl die Gefahr, die ihm drohte, denn wenn er über den Hang abfuhr und den Schwung nicht rechtzeitig hemmen konnte, mußte er über die Felswände hinab ins Meer stürzen. Er konnte sich aber dem Ansinnen Haralds nicht entziehen, der jede Weigerung mit dem Tod bedrohte und ihm befahl, die Abfahrt zu unternehmen, dabei aber nicht eher als unmittelbar vor dem Absturz zum Meere haltzumachen. Er stieß dort seinen Speer in den Boden und erwartete so die Erfüllung seines Befehles.

Toki lief auf seinen Schneeschuhen den steilen Berg hinan, dann setzte er zur Abfahrt an. Sie gelang ihm, und genau an der bezeichneten Stelle, unmittelbar vor dem Abgrunde, faßte er Fuß. Doch kam er im letzten Augenblicke durch den mächtigen Schwung, mit dem er den Berg herabgesaust war, aus dem Gleichgewichte und griff Halt suchend nach dem Könige, dessen Mantel er erfaßte. Harald aber ließ sich den Mantel von den Schultern gleiten, und so sauste Toki den Abhang hinunter. Er stürzte aber nicht, sondern kam auf den Felsen unmittelbar vor dem Meere zum Stehen. Dabei zerbrachen seine Schneeschuhe, und das war sein Glück; denn sonst hätten diese ihn in mächtigem Schwünge unaufhaltsam ins Wasser getragen.

Zu Fuß legte Toki jetzt das letzte Stück zum Strande zurück. Ein Schiff nahm ihn auf, und er war gerettet.

Harald vergaß er nie, daß er ihm nach dem Leben getrachtet hatte. Er unterstützte Swen, Haralds Sohn, als dieser sich gegen seinen Vater erhob, und als es zwischen Vater und Sohn zum Kampfe kam, da traf Tokis Pfeil aus dem Hinterhalte, als Harald sich keines Feindes versah, den Konig zu Tode! So hatte Toki sich gerächt, und Swen konnte mit leichter Mühe die Herrschaft an sich reißen.


Quelle: Oskar Ebermann, Sagen der Technik, o. J., S. 71