Der Stiefelreiter
Wenn die Novemberstürme abends durchs Reusstal heulen und es sich
beim Kreuzwirt im Städtchen Bremgarten erst recht gemütlich
hinter dem Weinglas sitzt, heisst es oft auf einmal: "Hört doch,
der Stiefelreiter!" Sogleich ist alles still und lauscht nach der
Reussbrücke hinüber, die eben unter dem Hufschlag eines galoppierenden
Rosses erdröhnt. Dann hört man draussen auf der Strasse nach
der alten Klosterschaffnerei Pferdewiehern und das Lachen einer widerlich
kreischenden Stimme vorübersausen. Und nun weiss mancher von einer
unliebsamen Begegnung mit dem Stiefeli zu erzählen, und niemand geht
an solchen Abenden gern mehr über Feld und Berg.
Einst aber war ein Metzgerknecht aus Hägglingen bis spät im
Wirtshaus sitzen geblieben und wollte mit Anbruch der Nacht allem Abraten
zum Trotz seinen Weg noch über den Wagenrain nehmen. Oben im Gehölz
traf er auf einen Reiter, der ihm den Weg versperrte. Ein ausgemergeltes
Männchen hockte da auf einem mächtigen Schimmel nicht anders
als ein vereinzelter Schornstein auf dem Dach eines stattlichen Hauses.
Das Auffälligste an ihm aber waren die ungeheuerlichen Stulpenstiefel,
in denen seine kurzen Beine steckten. Der Metzgerbursche schwang schliesslich
seinen Stock, um sich damit den Durchgang zu erzwingen. Da wuchsen Zwerg
und Pferd vor ihm zusehends empor, und des Mannes Augen fingen unter der
hängenden Hutkrempe hervor wie glühende Kohlen zu leuchten an.
Jetzt ergriff der Knecht die Flucht und rannte durch dick und dünn,
von dem Sporengeklirr des gespenstischen Reiters immerfort waldein gehetzt.
Erst nach Mitternacht fand er oberhalb Bremgartens wieder aus dem Gehölz,
die Kleider zerfetzt und an Kopf und Händen zerkratzt. Und dort vernahm
er mit Grausen, wie es hinter ihm in die Luft emporrauschte, als ob wilde
Wasser über Felsenschwellen dahinstürzten, und dann raste es
mit lautem "Hohopp !" das Reusstal hinauf.
Als der Geselle in aller Frühe seine müden Füsse wieder
unter den Tisch des Kreuzwirtes streckte und sein nächtliches Abenteuer
erzählte, mischte sich von der Bankecke her eine alte Hausiererin
ins Gespräch, um das wunderliche Reiterlein in Schutz zu nehmen.
Sie war abends zuvor vom Dorfe Muri nach dem Reusstal hinuntergegangen
und hatte ihren Tragkorb am Waldrand noch für einen Augenblick abgestellt.
Da war einer zu Ross aus dem Dickicht gebrochen, ein kleiner, zaundürrer
Alter in hellgrünem Frack und blauen Hosen, die aus den Schäften
gewaltiger Stiefel hervorzündeten. Sie wollte erschrocken Reissaus
nehmen, doch das Männchen rief ihr ganz freundlich zu: "He,
Frau, da habt Ihr ja Euren Korb stehen lassen!" Und wie sie zögernd
zurückkehrte, hob er selber ihr den Korb auf den Rücken. Dann
war mit einmal die Dunkelheit eingefallen, und sie machte sich eilig davon.
Denn es wollte ihr doch unheimlich vorkommen, als die Peitsche des Reiters
mit weisser Glut zu brennen anfing. Nach einer Weile wandte sie sich schnell
einmal um und sah ihn nun hoch über den Wald dahinjagen, während
der Atem aus seinem keuchend geöffneten Mund feurig hinter ihm herflog.
Droben auf der Anhöhe setzte er mit seinem Schimmel über die
Ringmauer des Klosters und verschwand.
"Der leibhaftige Stiefelreiter!" rief der Wirt vom Schenktisch
her. "Da hat er sich gestern wieder ein frisches Ross aus dem Stall
des Klosters abgeholt, das ihm dort als sein Leibgeding alle sieben Jahre
bereitgehalten wird. Dann hat er das Recht, alles, was ihm in den Weg
kommt, zu schänden und zu verderben, und schlecht geht es dem, der
ihm dabei in die Quere kommt. Der junge Mann hier hat es erfahren müssen
und jener Bauer auch, der im Schlattholz das Gatter vor dem Stiefeli aufmachte
und ihm den eben auf dem Markt gekauften Wollhut hinhielt. Dem brannte
er mit einem hineingeworfenen glühenden Geldstück ein grosses
Loch durch den Filz. Im Klostergebäude gehört ihm ein eigenes
Zimmer, in dem es vor Poltern und Lärmen sonst niemand aushalten
kann. Der Subprior hat es einmal mit Bannsprüchen zu säubern
versucht, ist dabei aber schlimm weggekommen. Kurz vor der Franzosenzeit
liess der Gnädige Herr das ganze Kloster zum Teil umbauen, zum Teil
neu herrichten. Nur die Stube, in der man den Stiefeli Geld zählen
hört, ist unverändert geblieben."
Das ist der Stiefelreiter, das Freiämter Landesgespenst, einst des
reichen Stiftes Muri gefürchteter Gutsvogt. Die Bauern jener Gegend
nennen ihn auch den Schwarzwälder Bläseli. Denn als armes Büblein,
das wegen seiner Kleinheit nur "der Stiefeli" hiess, ist er
aus St. Blasien einst fremd ins Amt gekommen. Barmherzig nahm ihn das
Kloster Muri als Hirtenjungen an. Da dressierte er seine Schweineherde,
dass sie ihm gleich Hündlein nachlief. Als er zum Schäfer aufgerückt
war, machte er sich den ganzen Tag mit seinen Schutzbefohlenen zu tun,
putze sie und band ihnen Maien auf die Köpfe, dass sie stolz wie
tannreisgeschmückte Soldaten einherschritten. Wollte er aus- oder
einfahren, so blies er auf seiner Schwegelpfeife, dass Schafe und Lämmer
alle aufhüpften und im Galopp hinter ihm herrannten. Nur die Kühe
und Stiere gehorchten ihm nicht, die liefen lieber den hohen Grasbüscheln
nach als dem schmächtigen Weidbuben.
Darauf machte ihn der Pater Schaffner zum Pferdeknecht, und als solcher
war er schon mehr am richtigen Platz. Sein Dienstlohn bestand nun in einem
Paar grossmächtiger Stiefel, die ihm das Kloster alle Jahre neu anfertigen
liess, und einem eigenen Schimmel. Diesen zog er so wohl, dass die Klosterherren
sich um den Vorzug stritten, ihn reiten zu dürfen. Aber als nun sein
Lieblingsross immerzu auf der Strasse war, beklagte er sich beim Bruder
Schaffner darüber, und dieser anvertraute dem Kleinen dafür
das Amt eines Meisterknechts, der nichts anderes mehr zu tun hatte als
anzuordnen und nach dem Rechten zu sehen.
Jetzt kam es, wie's immer geht, wenn einer aus dem Saustall in die Herrenstube
vorrückt: der Bläsi wurde ein gestrenger Fronvogt. Die Dienstleute
des Klosters duckten sich, wenn er zur Aufsicht erschien. Froh waren sie
nur, dass er beständig auf seinem Schimmel sass, so dass sie ihn
von weitem daherjockeln sahen und dann die Hacken fester fassen konnten.
Denn grausam hieb seine Peitsche auf die müden Rosse ein, wenn sie
ihm nicht rüstig genug werkten. Zu Fuss liess er sich nur zu Hause
noch blicken und auch dort nie ohne seine gewaltigen Sporenstiefel. Und
sobald diese in den Bügeln sassen, ging der Schrecken vor dem, der
darin stak, durchs Land. Wenn er die Güter des Stiftes kreuz und
quer durchritt, bückten sich die Leute in die Hecken, und die Kinder
stoben rechts und links von der Strasse und schrien: "De Stifelirieter
chunnt, de Stifelirieter!" Es sah aber auch aus wie eine Spukgestalt
am hellen Tag, das knochige Männlein mit dem kurzen Hals und dem
Ledergesicht, in dem fast nur die stechenden Augen und der rote Bart unter
dem Hutrand zu unterscheiden waren. Am Hinterhaupt trug er dazu noch ein
unförmliches Gewächs, so gross, dass man bald sagte, er habe
zwei Köpfe.
Aber wie grimmig ihn das Volk ringsum auch hasste, im Kloster war er beliebt
und angesehen. Denn vor seinen geistlichen Herren zeigte er sich stets
demütig und untertänig, und für ihr zeitliches Heil hielt
er beide Augen offen, sogar mehr, als recht und billig war. Beim Eintreiben
der Gotteshauszinse irrte er sich gern im Zählen und warf im Handumdrehen
eine elfte und zwölfte Garbe auf den Zehnthaufen mit so gehässig
verkniffenem Mund, dass die Bauern keine Widerrede wagten. Nichts war
sicher vor seinen klebrigen Fingern. Er lichtete im Vorüberreiten
die Scheiterbeigen unter den Fenstern der Nachbarn, die Heuhaufen auf
ihren Wiesen und holte in ihren Baumgärten das Obst aus den Zweigen
herunter. Aber für die Bitten und Klagen der Dürftigen und der
Bedrängten war sein Herz wie vernietet. Schonungslos stiess er Arme
aus der verschuldeten Hütte und riss hilflosen Kranken das letzte
Laken unterm Leibe weg.
Hätte der hochwürdige Abt einmal den Weg unter die Füsse
genommen und nur im Umkreis einer halben Stunde vertrauliche Nachfrage
gehalten, er würde über den Stiftsvogt schaudervolle Dinge vernommen
haben. Vielleicht aber hätte er den Leuten nicht einmal Glauben geschenkt,
sicher nicht, wenn sie ihm berichtet haben würden, der Stiefelreiter
spotte offen des ewigen Richters, er speie die Flurkreuze am Weg an und
schädige sogar die Bauern, die solche neu errichteten. Innerhalb
der Klostermauern gebärdete der Vogt sich nämlich wie die Frömmigkeit
selber und stand deshalb beim Konvent von Muri in hoher Gunst. So wagte
niemand, ihn zu verklagen, und er trieb sein Unwesen immer arger.
Bald sagte man von ihm auch, er heisse bei Nacht und Nebel die Marksteine
draussen im Feld über die Furchen hinweg spazieren, und mancher staunte
dann am Morgen, wenn er des Vogtes Acker gewachsen, den seinigen aber
verschmälert sah. Ganze Dörfer beraubte er ihrer Waldungen und
Allmenden, und oft genug mussten sie nach dem Verlust ihres Gemeindegutes
auch noch die aufgelaufenen Prozesskosten bezahlen. So wurde er mit der
Zeit ein ränkesüchtiger und gewalttätiger Rechtsverdreher,
nur darauf bedacht, die Ländereien des Stiftes zu vergrössern
und zu mehren.
Jenseits Schongaus auf Luzerner Grund hatte eine fromme alte Frau ihr
ansehnliches Bauerngut der Abtei Muri vermacht. Das war dem habsüchtigen
Stiefeli ganz erwünscht. Sogleich ritt er auf jenen Hof und durchmusterte
ihn. Dann trat er ins Haus, wo die alte Frau eben bei der Suppe sass,
und erklärte ihr, der Bauernhof sei für das Kloster nicht sehr
von Nutzen, so lange er noch durch ein dazwischenliegendes Gütchen
unterbrochen werde. Sie möge zum Frommen des Klosters und ihres eigenen
Seelenheils durch einen Zusatz in ihrem Testament bestimmen, dass dieses
Besitztum mit in das Erbe des Stiftes falle. Darüber wurde die Frau
so aufgebracht, dass sie von ihrer Suppe aufstand und dem Vogt mit kurzen
Worten die Türe wies. Denn jenes Gütchen, das nur aus ein paar
Wiesen und Äckern bestand, gehörte ihrer Bruderstochter, die
dort in einer Strohhütte wohnte. Und gerade in der sorgsamen Absicht,
die verlassene Nichte in ihrem ärmlichen Häuschen auch später
noch geschützt zu wissen, hatte die Schongauerin im Testament das
Kloster zum alleinigen Gutsnachbar ihrer Anverwandten gemacht.
Der Stiefeli aber wusste sich zu helfen. Er bemächtigte sich der
Pergamentrolle, welche die Vergabung enthielt. Und nachdem er sich schon
früher auf die Nachbildung aller möglichen Schriften verlegt
hatte, setzte er nun mit geschickt verstellter Hand in jener Schenkung
noch die Worte hinzu: "Samt dem Hüttlein und dem Gute, das bis
dahin meines Bruders Tochter innegehabt."
Nach dem Tode der Stifterin kam es über die verfälschte Urkunde
zum Rechtsstreit. Der Stiefeli aber beendigte ihn damit, dass er auf der
strittigen Liegenschaft den Eid ablegte, so wahr sein Schöpfer und
Richter über ihm sei, so wahr stehe er auf des Klosters Grund und
Boden. Kaum hatte er den Schwur getan, so stiess er einen furchtbaren
Wehschrei aus und wälzte sich in Todeszuckungen auf dem Wiesland
herum. Als man ihm die Kleider aufknöpfte, sah man, dass es sein
Meineid war, der ihm den Hals gebrochen hatte. In seinem dichten Kraushaar
fand man nämlich Schöpfer und Richter (Löffel und Kamm)
versteckt, seine grossen Stiefel aber waren mit Erde aus dem Klostergarten
von Muri angefüllt. So hatte er den himmlischen wie den irdischen
Richter täuschen wollen und war darüber von jähem Verderben
ereilt worden.
Deshalb ist er für ewige Zeiten dazu verdammt, mit verdrehtem Haupt
die geraubten Allmenden und Forste auf seinem Schimmel bei Sturm und Finsternis
lärmend zu durchjagen. (Bremgarten)
Email-Zusendung von Christoph Zumbach, vom 7.
Mai 2004.