Der Alpsegen

In den Alpenländern der Schweiz war es früher ein vielverbreiteter Brauch, am Abend in die eindämmernde Nacht hinaus den Alpsegen zu rufen. Vielerorts rief man ihn durch eine Art Holztrichter, die Volle geheißen, und mancherorts hielt man nur beide Hände an den Mund und rief ihn also über die Weiden. Aber auf einigen Alpen sang man den Segen in einer schwermütigen Weise und blies dazu wohl auch das Alphorn. Also hielten die Sennen und Hirten die bösen Mächte, die auf den entlegenen Bergweiden ihr Unwesen trieben, besonders die heimtückischen Buzen, von sich und ihrem Vieh ab. Soweit der Schall des Alpsegens reichte, hatte das Böse keine Gewalt.

Vor langer, langer Zeit hatte der Senn von Gredetsch im Walliser Alpenland den Alpsegen zu singen vergessen. Weil er sehr ermüdet war, hatte er sich ohne weiteres auf die Nistern ins Wildheu gelegt und war fast am Einschlafen.

Da hörte er plötzlich das Läuten und Schellen seines Senntens. Es war gerade, als zöge seine große Viehherde auf einmal über die Alpenweiden auf und fort. Immer ferner schallten und klopften die vielstimmigen Kuhschellen.

Flink sprang der Senn auf und machte sich vom Gelager ins Freie. Aber schon hörte er das Läuten nur noch wie ein fernes Klingeln. Jetzt erschrak er, denn es kam ihm in den Sinn, daß er vergessen hatte, den Alpsegen zu singen. Also hatte ihm gewiß ein tückischer Alpbuzen das Vieh über Berg und Tal entführt. Es war höchste Zeit, daß er handelte, sonst verlor er sein schönes Sennten. Geschwind stellte er sich bei der Hütte unter einen Lärchenbaum und rief aus Leibeskräften: "Bleschi, chu, loba, loba!" Auf diesen Anruf war das Vieh festgebannt. Und dann rief er nochmals mit mächtiger Stimme: "Zu-rück, wo du sie genommen!"

Nun war es sonderbar. Erst hörte er nur ein leises Klingeln und Summen, und dann ward allmählich ein fernes Schellen daraus. Aber immer mehr schwoll es an, immer deutlicher wurde es. Und auf einmal läutete das ganze Sennten wieder über die Weiden daher, und jetzt kamen die verloffenen Kühe in den Staffel. So hatte er seine ganze Herde wieder beisammen. An dem Lärchenbaum aber ließ der Senn das Bild der Muttergottes anbringen, das dann völlig in den Baum einwuchs und also einen lebendigen Rahmen hatte.

Heute noch wird da und dort auf den Alpen der Alpsegen gesungen. Einer der schönsten ist wohl der Alpsegen des Hochtales von Engelberg im Obwaldnerland. Er wird allabendlich feierlich durch eine Volle gesungen und lautet:

"O lobet, zu loben! In Gottesnamen lobet!
Gott und der heilig St. Antoni und Wendel
und der vielselig Landesvater Bruder Klaus,
die wollen heut nacht auf dieser Alp die lieb Herberg halten.
Das ist das Wort, das weiß der Liebgott wohl.
Hier über dieser Alp steht ein goldiger Thron.
Drin wohnet Gott und Maria mit ihrem allerliebsten Sohn
und ist mit vielen Gnaden übergossen
und hat die ganze heilig Dreifaltigkeit unter ihrem Herzen verschlossen
Das eint ist Gott, der Vater;
das andre ist Gott, der Sohn;
und das dritt ist Gott, der lieb Heilig Geist.
Ave, ave, ave Maria! Amen."

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.