Das Bergmännlein

Einst war zu Ernen im Wallis ein alter Mann. Der besaß auf Eggel in der Hochfluh ein kleines, abseits gelegenes Gut, worauf ein Stall und ein braunes Häuschen standen. Jedes Jahr, wenn es einwinterte, brachte er sein Vieh dorthin. Aber das war nun für den alten Mann gar mühselig. Jeden Abend mußte er den weiten Weg von Ernen in das kleine Gütchen hinauf machen, und wenn er dann müde und matt oben ankam, hatte er vollauf Arbeit mit seinem Vieh und war weit und breit kein Mensch, der dem armen Alten geholfen hätte. Das stimmte ihn gar traurig, denn er fürchtete oft, daß er nach der schweren Arbeit am andern Morgen den strengen Heimweg durch den Schnee einmal nicht mehr machen könnte.

Eines Abends, als er wieder, ganz erschöpft und schweratmend, von Ernen zu seinem kleinen Gütchen hinaufgestiegen war, setzte er sich keuchend auf den vereisten Brunnentrog vor dem niedrigen Häuschen und seufzte: "Ach, hätte ich doch jemand, der mir wenigstens den Ofen heizte, daß ich mich daran nach der schweren Arbeit allemal ein Weilchen wärmen könnte!" Niedergeschlagen trat er ins Häuschen, um ein Feuer im Ofen anzumachen. Aber wie staunte er! Im Ofen knatterte und knisterte ein mächtiger Holzklotz. Auf dem Herd brannte ein munteres Feuer, und unter den zwei Ladsteinen lag wohlgepreßt der frisch zubereitete Käse. Und ringsum war alles in bester Ordnung, also daß er in der Küche rein gar nichts mehr zu tun fand.

Rasch machte sich der alte Mann in die Stube, denn er dachte, da drin werde er wohl den antreffen, der ihm unerwartete Hilfe in der Küche geleistet habe. Er ging in Gedanken geschwind alle seine Bekannten durch, die ihm solch einen Gefallen hätten tun können, aber er fand keinen, dem er so viel Herz zugetraut hätte. Wie er nun in die Stube trat, fand er sie völlig verlassen und menschenleer. Aber es sah doch aus, als ob eben jemand drin tätig gewesen wäre. Auf dem Butterstock war die frisch aus dem Butterfäßchen genommene goldgelbe Butter aufgeschlagen. Die Stube war sauber gekehrt, und alles sah so aufgeputzt aus wie noch nie.

Jetzt ging der Mann hurtig in den Stall hinüber, denn es bedünkte ihn das alles gar wunderlich. Vielleicht steckte irgendein hilfreicher Mann aus Ernen im Stall. Doch wie er sich auch im Stall umschaute, kein Mensch ließ sich finden. Wohl aber war zu seiner Verwunderung auch im Stall bis auf den Heustock hinauf alles in bester Ordnung. Die paar Kühe waren gefüttert und sauber gestriegelt wie Herrenrosse, also daß sie glänzten. Friedlich wiederkäuend lagen sie auf ihrer frischen Streu. Auch fand er sie gemolken, und als er in den Milchkeller trat, fand er die Milch in Kupfergelten auf den Wasserkänneln, und schon hatte sie eine goldgelbe Nidel (Rahm). Glücklich darüber, daß alle Arbeit schon getan war, machte er sich in die warme Stube zurück. Dort setzte er sich an den Ofen und dachte von neuem darüber nach, wer ihm das wohl zu Gefallen getan haben könnte. Doch er kam zu keinem Ende. Und so legte er sich denn getrost zu Bett.

Als er sich am nächsten Morgen mit frischem Mut an die Arbeit machen wollte, fand er zu seinem Erstaunen auch jetzt wieder alles schon getan. Da merkte er, daß es da nicht mit gewöhnlichen Dingen zugehe und daß ihm irgendeine geheime gütige Macht behilflich sei. Er dankte von Herzen Gott dafür und machte sich gegen Mittag durch den hohen Schnee nach Ernen zurück.

Wie er am Abend wieder in sein Gütchen hinaufkam, war alles und jedes, gerade so wie am Tage zuvor, schon getan. Er brauchte sich nur hinzusetzen und die Vorbruchmilch zu trinken, die noch dampfend auf dem Tische stand. Er fragte aber jetzt nicht mehr, wer ihm dies alles schaffte, er nahm es freudig hin, und bald, als er's alle Tage in Haus und Stall so wohlgetan fand, betrachtete er's als etwas Selbstverständliches. Nun konnte er immer gemütlich sein Pfeifchen anzünden und zum Fenster hinaus nach Wind und Wolken sehen, wenn er auf sein Gütchen kam, der unsichtbare Geist hatte doch schon alle Arbeit vollendet, und zwar so gründlich und gut, daß die Kühe immer fetter, die Käse und die Butterstöcke im Laufe des Winters immer umfangreicher wurden. Und was ihn am meisten freute, war, daß auch der Heustock nie auch nur um einen Halm abzunehmen schien.

Jedoch so nach und nach wurde der alte Mann neugierig. Gar zu gern hätte er gewußt, was für ein Aussehen das Wesen wohl haben mochte, das ihm seine Sachen so schön besorgte und alles am Nutzen hielt. Doch wie er auch aufpaßte, er konnte nichts bemerken. Gegen das Ende des Winters hielt er's vor Neugierde schier nicht mehr aus. Er guckte durch alle Wandritzen in Stube, Küche und Stall, doch nie bekam er etwas zu sehen. Schon meinte er, er werde dem geheimnisvollen Treiben nie auf die Spur kommen, da hörte er eines Morgens die Butterliere in der Stube arbeiten. Leise hob er die Bettdecke und guckte hinein. Jetzt erblickte er zu seiner Verwunderung ein winziges Männlein mit Gänsefüßen, das eben daran war, die frischgemachte Butter aus dem Fäßchen zu nehmen. Leise zog er die Bettdecke wieder über den Kopf, denn nun wußte er genug: ein Bergmännlein hatte ihm den ganzen Winter über die Arbeit getan. Das freute ihn sehr, und er nahm sich vor, das Zwerglein, so gut er eben vermöge, zu belohnen.

Am andern Tage begab er sich nach Ernen und ließ dem Bergmännlein ein hübsches neues Röcklein machen. Und wie er dann wieder hinaufkam auf die Hochfluh in sein Häuschen, legte er ihm's vor dem Zubettgehen auf den Tisch. Er war sehr darauf gespannt, was das Zwerglein nun tun würde, wenn es das neue Gewand finde. Deshalb wollte er am Morgen zeitig wach sein und scharf aufpassen. Allein er verschlief sich, und als er endlich aufwachte und nach dem Stubentisch schaute, war das hübsche Röcklein weg. Vor dem Fenster aber hörte er eine Stimme singen:

"Nun bin ich gar ein schöner Mann,
der nun nicht mehr hirten kann."

Danach verschwand das hilfreiche Zwerglein auf Nimmerwiedersehen.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.