Der Gifibuzen

Die Buzen sind gar unheimliche, boshafte Nachtkobolde, die dem Menschen nicht gut wollen. Besonders im Alpenlande sind sie unbändig, wild und heimtückisch, und die Älpler wären oft übel dran mit ihnen, hätten sie nicht den Alpsegen und das Weihwasser und vor allem ein gutes Gewissen. Ein absonderlich wilder Buzen haust in den Walliser Alpen auf dem Gifi. Kaum sind die Betglocken vom Dorfe Münster am Abend still geworden, so fährt der unselige Buzen gleich einem Feuerbrand über Alp und Grat. Wehe dem einsamen Älpler oder Bergwanderer, der dann noch über Weg ist. Der Buzen ist immer um ihn und neckt und narrt ihn gar bös. Das Vieh aber versprengt er in die gähnenden Tobel. Der Wanderer mag ein Windlicht tragen, wie er will, der Gifibuzen löscht's ihm mit einem Male aus. Und plötzlich, wenn alles noch so still ist auf den schlummernden Alpenweiden, gellt ein Mark und Bein durchdringendes Jauchzen durch die Nacht. Läuft nun der Wanderer, zu Tode erschrocken, ohne Licht und Halt in toller Hast davon, so stellt ihm der Buzen ein Bein, daß er in irgendeine Grube oder gar über die Fluh fällt. Oder er läuft gar immer neben ihm her wie ein leiblicher Schatten und führt ihn kreuz und quer, daß er nie ans Ziel kommt.

Also erging's einmal einem jungen Burschen in Münster. Zur Fastnachtszeit war er oben auf dem Gifi und besorgte das Vieh. Am Fastnachtsmontag gedachte er sich im Tal einen fröhlichen Abend zu machen. Deshalb trat er aus dem dampfenden Stall und riegelte die Türe zu, eben als in Münster die Betglocke läutete. Jetzt wollte er sich rasch nach Münster begeben. Wacker griffen seine schweren Bergschuhe aus, und ohne Anhalten ging er vorwärts. In der Ferne sah er die freundlichen Lichtlein von Münster brennen. Auch hörte er den Stundenschlag der Dorfkirche. Immer rascher wanderte er zu. Obwohl es stocksteindunkel war, konnte er doch ganz gut die hartgefrorenen Geleise des Schlittenwegs sehen, die merkwürdigerweise von einem wunderbaren Schein erleuchtet waren und silberhell glitzerten und gleißten. Er lief und lief, und immer sah er die Lichtlein von Münster vor sich, aber seltsamerweise wollten sie nie größer werden, sosehr er lief. Der Schweiß ging ihm über die Stirn, und sein Atem pfiff, also griff er aus. So lief und lief er denn immerzu. Da ertönte auf einmal die Morgenglocke von Münster. Es ward heller Tag, und da schritt er gerade vom Söller seines Stalles hinweg. Also war er die ganze Nacht auf Tod und Leben gewandert und doch nicht einen Schritt von seinem Stall weggekommen. Da wußte er wohl, wer ihm das angetan hatte, und er bekreuzigte sich vor dem neckischen und heimtückischen Gifibuzen.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.