Goldbethli und Harzbabi

In der schönen, obstreichen Gegend beim Städtlein Willisau im Luzerner Gebiet lebte einst, Gott weiß wann, eine Frau. Sie hatte zwei Töchterlein, ein eigenes und ein Stiefkind. Das eigene hieß Babi und das Stieftöchterlein Bethli. Aber die Frau war gegen ihr Stiefkind gar nicht gut. Ihre eigene Tochter konnte machen, was sie wollte, wenn's noch so gefehlt war, es war ihr doch immer recht. Alle Unarten nahm sie für kindliche Munterkeit. Wenn jemand zur Frau kam und sagte, ihr Babi hätte gegen sie die Zunge herausgestreckt, so sagte die törichte Mutter, das sei halt nur so eine lustige Gewohnheit von ihrem Babi, und es habe auch gar ein so schleckhaftes, hübsches Zünglein. Dabei bekam Babi immer das Beste zu essen, und was sie nicht bekam, naschte sie. Kein Honigtopf war vor ihr sicher. Doch die Mutter wollte alle ihre Unarten nicht sehen. Aber das Bethli, ihr Stieftöchterchen, mußte gar oft Hunger leiden und mit dem Abfall vom Tisch vorliebnehmen. Und während das Babi in schönen Kleidern überall herumfackelte, mußte das Bethli in geringen Lumpen am Spinnrad kauern und auf Tod und Leben schaffen, also daß ihm die Finger fast abfielen. Soviel es aber spann, die böse Stiefmutter war nie zufrieden und schimpfte es alleweil erbärmlich aus.

Eines Tages, als das Bethli das Spinnrädlein wieder gar emsig schnurren ließ und nur ab und zu einen Blick durchs Fenster vors Haus tat, wo das Babi mit dem Ball spielte, fiel ihm der Wirtel zu Boden und kugelte in ein Mäuseloch hinein. Eben trat die Stiefmutter ein, und als sie sah, wie der Wirtel ins Mäuseloch gerollt war, wurde sie wütend und schrie: "Nun schlüpfe nur sofort ins Mäuseloch hinunter und hol mir den Wirtel wieder herauf, sonst ergeht's dir bös!"

Das arme Bethli erschrak und wußte sich nicht zu helfen; denn wie sollte es in ein Mäuseloch hineinkommen. Aber es wußte von nichts anderem, als daß man immer gehorchen müsse, und so warf es sich auf den Boden und kroch auf das Mäuseloch zu. Und siehe, das kleine Loch erweiterte sich mit einem Male, und zum Erstaunen der bösen Stiefmutter konnte das Bethli hineinschlüpfen und war im Hui verschwunden.

Das Bethli aber war kaum ins Mäuseloch geschlüpft, so erweiterte sich das zu einem großen Gange, und auf einmal kam es in eine schöne Gegend und lief auf ein prächtiges Schloß zu. Wie es nun an das Schloß herankam, sah es vor seinen Toren gar niedliche, spielende Hündchen, die wie Menschen reden konnten. Sie begrüßten das erstaunte Mägdlein freudig, wedelten um sein armselig Stumpfröcklein herum und wußten sogar seinen Namen, denn sie bellten:

"Wauwau, das goldene Bethli kommt!
Wauwau, das goldene Bethli kommt!"

Jetzt ging ein Tor auf, und einige Kinder eilten aus dem hohen Schlosse, die noch viel, viel schöner waren, als man's sagen kann. Sie nahmen Bethli in ihre Mitte und waren gar holdselig zu ihm. Aber Bethli stand mit dem Finger im Mäulchen in ihrem Kreise und schaute schüchtern von einem zum andern, denn es war's gar nicht gewohnt, daß man so lieb mit ihm tat. Die Schloßkinder sahen Bethli wohl an, wie sehr es Hunger hatte, und fragten gleich: "Goldbethli, mit wem willst du essen, mit uns oder mit den Hündchen?" - "Setzt mich nur zu den Hündchen", sagte demütig das Mägdlein, "'s ist lang gut genug für mich." - "Nein", riefen die schönen Kinder aus, "du sollst mit uns zu Tische gehen." Und nun legten sie ihm zwei Gewänder zur Auswahl vor, ein hölzernes und ein goldiges. "Nun zieh dasjenige an, das du willst!" riefen die Schloßkinder. Bethli langte nach dem hölzernen und sagte: "Das ist lang gut genug für mich." - "Nein", riefen die Kinder wieder, "du sollst das goldene haben." Bevor es wußte, wie ihm geschah, hatten sie ihm das goldene Gewand angezogen und führten es nun ins Schloß hinein bis hinauf in einen glänzenden Saal.

In diesem Saale nun war ein langer, goldener Tisch, mit den allerbesten und süßesten Speisen und Getränken in lauter goldenen Gefäßen bedeckt. Jetzt bekam es das ausgehungerte Bethli gut. Die schönen Schloßkinder steckten ihm von allem Guten und Süßen in den Mund, bis es bis ans Halszäpfchen hinauf voll war. Und als nun die Zeit zum Abschiednehmen kam, schenkten sie ihm viel kostbaren Schmuck und gaben ihm zuletzt einen goldenen Wirtel in die Hand.

Danach führten sie das glückliche Mägdlein wieder zum Schloß hinaus und begleiteten es noch ein Stück Wegs, bis sie wieder in einen dunklen Gang kamen. Dort blieben die Schloßkinder zurück und riefen dem Bethli noch Lebewohl nach. So kroch es denn in den dunklen Gang hinein, und als es ihm schon fast den Atem benehmen wollte, zeigte sich auf einmal ein Schein, und da schlüpfte das Bethli wieder zum Mäuseloch im Stubenboden heraus in die Stube ihrer Stiefmutter. Die saß gerade mit ihrem eigenen Mädchen, mit dem Babi, am Tisch. Wie von Sinnen sprangen sie auf und staunten das Bethli an. Das stand, schön wie ein Engel, vor ihnen im leuchtendsten Goldgewand. Wie machten sie erst große Augen, als sie seinen kostbaren Schmuck und gar den goldenen Wirtel erblickten! Die böse Stiefmutter und das häßliche Babi vergingen schier vor Neid ob der Herrlichkeit Goldbethlis. Nun mußte ihnen das Kind alles erzählen, was es erlebt hatte, und als sie alles haarklein vernommen hatten, beschloß die Stiefmutter, ihr Babi müsse auch ins Mauseloch schlüpfen und in die geheimnisvolle Welt hinuntergehen. Babi war damit sehr einverstanden, denn sie dachte, ihr würden noch viel kostbarere Dinge zuteil werden, wenn schon ein so verachtetes Küchenlümplein wie das Bethli so feine Sachen heimgebracht habe. Flink ließ Babi den Wirtel von ihrem Spinnrad in das Mäuseloch hinabrollen. Dann warf sie sich auf den Stubenboden, und auch ihr tat sich das Loch willig auf und ließ sie hineinschlüpfen.

Als nun Babi in die schöne Gegend gelangte, wo das Schloß stand, lachte ihr schon das Herz im Leibe, denn dort sah sie ja die Hündchen vor der Schloßpforte spielen. Ohne zu zögern, eilte sie mit polternden Schritten aufs Tor zu. Wie nun die Hündchen das Gepolter hörten, sahen sie auf, und als sie das heranstürmende Mädchen erkannten, bellten sie unwillig:

"Wauwau, das Harzbabi kommt!
Wauwau, das Harzbabi kommt!"

Und dabei zogen sie die Schwänzchen ein und machten böse Augen. Jetzt ging das Schloßtor auf, und die schönen Schloßkinder eilten heraus. Aber sie schauten Babi nicht mit so leuchtenden Augen an wie früher Bethli. Doch fragten sie auch: "Mit wem willst du essen, mit uns oder mit den Hündchen?" Worauf Babi ohne weiteres sagte: "Mit euch, das Bethli hat auch mit euch gegessen." Danach legten sie ihr die zwei Gewänder vor, ein hölzernes und ein goldenes, und fragten, welches von beiden sie anziehen wolle. "Das goldige will ich anziehen", rief das Babi aus, "das Bethli hat auch ein goldiges. Zudem will ich einen goldenen Wirtel haben und andern feinen Schmuck."

Aber es kam anders. Auf einmal, sie wußte nicht wie, hatte das Babi das hölzerne Gewand an, und schon kauerte sie auf dem Boden und mußte mit den Hündchen vor dem Tore ihr Hundeessen teilen. Und als sie sich erheben durfte, da wurde Babis hölzernes Kleid mit Pech und Harz über und über bestrichen. Die schönen Schloßkinder gaben ihr noch einen hölzernen Wirtel in die Hand, und dann jagten sie sie fort und riefen ihr nach: "Harzbabi, Harzbabi!" Da war sie froh, daß sie wegkam. Sie lief in den dunklen Gang, und auf einmal schlüpfte sie zum Mäuseloch hinaus in ihrer Mutter Stube. Die böse Alte wartete schier Tag und Nacht auf ihre Rückkehr und hatte viele Kerzen angezündet, damit man das Goldgewand und den Schmuck ihres rechten Kindes doch ja gehörig bewundern könnte. Wie erschrak sie aber, als ihr unartiges Kind in einem pechschwarzen Gewand aus dem Mäuseloch kroch und ihr schreiend erzählte, wie bös es ihr bei den Schloßkindern ergangen sei. Die Stiefmutter war wütend und wollte gleich ins Mäuseloch schlüpfen, um den Schloßkindern die Rute zu geben, aber ihr tat sich das Löchlein nicht auf, und da konnte sie nichts machen und mußte sich dreinschicken. Das Harzbabi aber vermochte ihr Kleid nicht mehr vom Leibe zu bringen, und wo sie lief, riefen ihr die Kinder nach: "Harzbabi, Harzbabi!" Wenn aber das Bethli in seinem goldenen Gewände daherkam, jauchzten sie auf und riefen: "Da kommt das Goldbethli, das Goldbethli!" - Es ist dann später ein schöner Jüngling gekommen und hat das Goldbethli geheiratet, die schönen Schloßkinder sollen auch bei der Hochzeit gewesen sein.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.