Die Herkunft der Schwyzer
Vor alter Zeit begab sich im Lande der Schweden im kalten Norden eine große Teurung, und erwuchs daraus eine greuliche Hungersnot, so daß die Leute gar übel daran waren. Sie wußten sich nicht mehr anders zu helfen, als dass sie einen kleinen Teil des Volkes durch den Beschluß der Landsgemeinde zwangen, das Heimatland zu verlassen.
So zogen ihrer an die fünftausend mit Weib und Kind aus dem mitternächtigen Lande und gelobten sich im Namen Gottes, daß sie sich nie verlassen wollten im Leben und Sterben. Sie gedachten durch alle Länder bis nach Rom zu ziehen, denn sie hatten vernommen, daß dort die Sonne beständig am Himmel stehe und daß es statt der eisigen Schneekörner den Leuten süße Früchte auf die Kappen schneie. Ihre Anführer aber waren zwei Brüder, die Swyt und Schej hießen.
Also zogen sie durch ganz Deutschland und raubten und nahmen alles mit sich, was sie bekommen konnten. Zwar stellten sich ihnen viele Fürsten mit ihren Kriegsleuten entgegen, allein das wandernde Volk hielt sich männlich und schlug so unbändig drein, daß ihm überall der Weg freigegeben werden mußte.
Bei diesen schweren Kämpfen verloren aber auch die Stämme Swyts und Schejs gar viel Volk. So kam es, daß sie überall, wo sie hinkamen, offene Pfade fanden, denn die Menschen in den Ländern, die sie durchzogen, hatten allenthalben von ihrer wilden Tapferkeit gehört und blieben vorsorglich in ihren wohlbefestigten Städten und Burgen. Diese aber ließ das Wandervolk in Ruhe. Sie wollten nur ihren Weg nach Rom offen haben.
Sie kamen durch viele hundert deutsche Gaue bis an den großen Bodensee, wo vor ihnen auf einmal die hohen Alpen und Schneeberge aufstiegen, die ihnen wie eine ungeheure Mauer den Weg zu versperren schienen.
Doch sie ließen sich nicht aufhalten, umgingen den See, wateten und schwammen durch den Rhein und trieben sich durch rauhe Wälder und über Alpenweiden und blaue Seen, bis sie endlich dahin gelangten, wo heute nahebei, im Tale der Alp, das Salveglöcklein Unserer Lieben Frau zu Einsiedeln ertönt. Unerschrocken brachen sie in die dunklen Urwälder ein, bis auf einmal Swyt, der Anführer, mit seinem Haufen aus einem mächtigen Tannenwald heraustrat.
Da sah er über sich zwei gewaltige, turmartige Berge stehen, und unter sich erblickte er einen ungeheuren Nebelsee, über den das Schneegebirge herschimmerte. Und nun begann es im Nebel zu wallen und zu wogen. Er fing an, aus der Tiefe heraufzusteigen und sich aufzulösen, und siehe, da zeigte sich tief unten ein weites, grünes Tal, und darin lagen ein kleiner, blauer Bergsee und ein großer, grüner, um den die Schneeberge standen.
Jetzt stieß Swyt in sein Horn, bis auch sein Bruder Schej mit seinem Volk herbeieilte. Alsbald stiegen sie mit all ihren Herden ins Tal hinab und streiften bis an den grünen Bergsee, an dem ein einsamer Mann die Fähre hütete, von der aus man über den See und das Schneegebirge nach Rom gelangen konnte. Obwohl das wandernde Volk nun selber vorgehabt hatte, nach Rom zu ziehen, besann es sich jetzt doch eines andern. Die Anführer schauten nochmals zu den zwei Hakenbergen hinauf, die heute Mythen heißen, und dann kehrten sie mit allem Volk zu den grünen Weiden unter die beiden Berge zurück.
Und als sie am Fuße der beiden Riesentürme anlangten, trieben sie die Speere in den Boden und riefen: "Hier wollen wir wohnen in alle Ewigkeit!"
Also ließen sich Swyt und Schej im Tal nieder mit all ihren Leuten. Aber als sie dem Lande einen Namen geben sollten, gerieten die beiden Brüder in Streit, da jeder das Tal nach seinem Namen nennen wollte. Und sie sagten sich voneinander los, und wie sie sich früher geliebt hatten, so haßten sie sich jetzt.
Eines Abends, als das Alpenglühen auf den Schneebergen lag, fielen
sie mit den Schwertern übereinander her und kämpften so lange
miteinander, bis endlich Schej tot hinsank. Darnach wurde das ganze Tal
nach dem siegreichen Anführer Swyt das Land Schwyz genannt, wovon
dann in späterer Zeit die ganze Schweiz ihren Namen erhielt.
Quelle: Meinrad Lienert,
Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner
2005.